Frankreich 2005  Flagge Frankreich

 

Einige Nachbarn schüttelten ein paar Tage vor dem Aufbruch bei der Erwähnung einer längeren Motorradtour unverständnisvoll mit dem Kopf - und nur wegen einiger Straßen, die angeblich besonders reizvoll sein sollen, auch noch bis hinunter in die Provence zu fahren, das wäre ja dann nichts für sie! „Und außerdem hatten Sie doch erst vor ein paar Wochen den Unfall – nein, so ein Leichtsinn!“

Leichtsinn nennen es die einen – Sehnsucht die anderen! Es gibt Straßen, die eine eigene Reise wert sind, und das erst recht mit einem Motorrad. Wir, dass sind in diesem Sommer unsere Freunde Doris und Hans, sowie Hartmut und Holger. Gemeinsam mit Martina und mir sind wir sechs Personen – eigentlich ganz schön viel für eine Motorrad-Reisegruppe…

Fast alle von uns fahren Honda XL V600 Transalp. Allerdings gibt es zwei Ausnahmen. Holger ist auf einer reinen Straßenmaschine dabei: seine rote Ducati ist zwar schon etwas betagt und braucht am Abend regelmäßig einen Longdrink Öl spendiert, aber ansonsten macht sie ihrem Namen als italienischer Flitzer alle Ehre.

Nach dem Motorradunfall vor drei Monaten fahre ich selbst inzwischen eine weiße BMW F 650. Es war ein sehr schneller, aber durchaus guter Kauf. Der kleine Einzylinder ist prima erhalten. Die Batterie ist nagelneu, und die Laufleistung des Motorrades erfreulich gering. Ich habe mich inzwischen auch schon daran gewöhnt, dass ich den Motor deutlich höher drehen lassen muss als früher bei der K. Auch mit der F und ihren 50 PS kann man flott voran kommen. Jedoch hat sich meine Fahrweise geändert: hohe Geschwindigkeiten und erst recht Autobahnetappen vermeide ich absichtlich. Dichtes Auffahren erst recht! Ich will meinen Glücksengel auf keinen Fall noch einmal in den Einsatz schicken.

Den rechten Arm und die Schulter kann ich inzwischen wieder leidlich gut einsetzen. Beim Fahren auf dem Motorrad spüre ich keine Schmerzen. Jedoch steht inzwischen endgültig fest, dass ich in die Klinik muss – aber davor liegen diese zwei herrlichen und seit langem geplanten Wochen: Motorradfahren mit Martina, und darauf habe ich mich wirklich unbändig gefreut – auch deshalb habe ich so schnell wieder ein Motorrad!

Wir alle haben wieder nur kleines Gepäck dabei. Vorne ist der Tankrucksack mit den Dingen, an die man immer wieder einfach und schnell herankommen muss: Wertsachen, Karten, Fotoausrüstung. Hinten auf dem Soziussitz ist das Campinggepäck in einer quer festgeschnallten, wasserdichten Rolle untergebacht und im Topcase ist der Rest verstaut. Ein paar Klamotten, Waschzeug, Kocher, Besteck und Geschirr. Mehr ist nicht dabei – und das ist gut so: die leichten Maschinen sind nach wie vor wendig und lassen sich angenehm fahren.

Zumindest unsere Anreise quer durch Deutschland und die Schweiz bis in die französische Provence hatte keine genau festgelegten Vorgaben. Die Route hinab soll möglichst reizvoll und halbwegs rasch sein. Auf unseren Karten, die wir abends zur geselligen Besprechung gewissenhaft in der „Wagenburg“ zwischen Zelten und Motorrädern ausbreiten, haben wir nur Bundes- und Landstraßen mit einem leuchtendblauen Textmarkerstrich versehen: unvergesslich soll sie werden, unsere Reise in den Süden Frankreichs. Noch ahnen wir nicht, dass die Unvergesslichkeit auch ohne Textmarker garantiert sein soll…

Martigny und Chamonix liegt bereits hinter uns, und wir sind endgültig in Frankreich angekommen. Auf dem Zeltplatz in Albertville ändert sich unser Abendessen: noch ofenwarme Baguettes vom „Boulanger“ sowie würziger Käse, fromage fort de la region, und kräftiger, roter Landwein aus dem „Supermarché“ werden serviert. Was braucht man eigentlich mehr?!

Unsere aktuellen Kartenblätter tragen inzwischen den Namen Michelin, und auch auf ihnen gibt es – obwohl wir noch gar nicht so weit gefahren sind – an insgesamt drei Stellen bereits im vorab jene auffälligen Textmarkierungen: hier haben wir unübersehbar drei Alpenpässe gekennzeichnet, die im „Großen Alpenstraßenführer“ vom Denzel-Verlag zwei oder gar drei Sternchen erhalten haben und damit als besonders „befahrenswert“ eingestuft sind – und das, obwohl nur eine von ihnen durchgehenden Teerbelag vorweisen kann, die anderen beiden sind sogar reine Schotterpisten! Na, wenn das erst unsere Nachbarn wüssten!

Unser erstes Ziel gleich am nächsten Tag ist die durchgehend geteerte „Route de Combe Laval“ in der französischen Hochdauphiné zwischen Valence und Grenoble. Senkrecht ragt hier der Kalkstein jählings und schroff bis zu 600m über dem Rhône- und Isèretal empor. In diese überaus steile und imposante Barriere wurden meisterhaft angelegte Straßen hineingesprengt. Sie führen in zahllosen Kurven entlang einer manchmal mehr als senkrechten Kante, teils unter, teils über bedrohlich wirkenden Felsüberhängen entlang und verschwinden dabei an machen Stellen in unbeleuchteten, für Autos fast immer entsetzlich engen und unübersichtlichen Straßentunnels. Größere Lieferwagen oder gar LKWs trauen sich erst gar nicht her.

Ausgangsorte sind dabei Pont-en-Royans bzw. St. Jean-en-Royan. Die Hinweisschilder in den Ortschaften tragen Namen wie Gorges de la Bourne, Grands Goulets oder eben Combe Laval – doch alle diese Straßen führen allesamt abenteuerlich hinauf in den Parc Regional du Vercors. Manche der viel zu kleinen Ausweich- und Parkbuchten „weiter oben“ ähneln einem leichtsinnig angelegten Balkon eines Penthauses am oberen Ende einer Hochhausfassade. Mit plötzlichem Gegenverkehr muss sich hier auch ein schlankes Motorrad arrangieren: dann heißt es anhalten und abwarten - bis klar ist, wer vernünftigerweise den entstandenen Engpass freigibt. Die Route de Combe Laval sucht in Europa wahrlich Ihresgleichen.

In Bedoin schlagen wir abends auf dem netten Terrassencamping unsere Zelte auf. Bald haben wir alle geduscht und sitzen wieder auf den kleinen Klapphockern. Zikaden zirpen in den Zypressen. Unsere Zelte stehen weit oben auf der dritten Terrasse. Wir haben eine herrliche Aussicht nach Westen, und ein imposantes Abendrot kündigt sich an.

Hans ist vorhin noch einmal losgefahren, um aus Bedoin vom Pizzabäcker auf dem Kirchvorplatz unser Abendessen zu beschaffen. Wir müssen recht lange auf unsere Bestellung warten. Das inzwischen zweite Glas Rotwein auf nüchternen Magen zeigt bei mir auch schon seine Wirkung. Aber was soll´s, es ist Urlaub! Endlich hören wir, wie Hans auf seiner Transalp unten durch das Tor vom Campingplatz angefahren kommt. Wenig später steht sein Motorrad neben unserem Lager, und er klappt sein Topcase auf: unser Monsieur vom Pizzabringdienst verteilt die Bestellung, uns es wird ein wirklich leckeres Abendbrot!

Bald ist klar, dass wir morgen noch nicht weiterreisen werden. Während die anderen unbedingt hinüber zur Gorge de l´Ardèche fahren wollen, nehmen Martina und ich uns die Gorge du Nesque und den Mont Ventoux vor, denn wir kennen die Ardèche-Schlucht auf der anderen Seite der Rhône bereits.

Die Fahrt durch die Nesque-Schlucht macht uns beiden am nächsten Tag viel Spaß, aber in einigen Kurven liegt Rollsplitt. Insofern lassen wir zwei es an diesem Tag noch langsamer als sonst angehen. Gleich hinter dem Ende der Schlucht wird die Landschaft auffällig mediterraner. In der Nähe von Sault am Fuße berühmten Mont Ventoux blühen violette Lavendelfelder – der angenehme, warme Fahrtwind ist vom intensiven Duft durchsetzt.

Nur eine weitere halbe Stunde später stehen wir oben auf dem Ventoux – weit oberhalb der Baumgrenze! Viele der Autotouristen in ihren kurzen Hosen und T-Shirts haben mit der kalten Höhenluft große Probleme. Sie halten sich nur kurz am Aussichtspunkt auf. Schon bald sind sie wieder im Auto verschwunden. Die zahlreichen Fahrradfahrer genießen offensichtlich ihr hart erkämpftes Höhenziel und sind zunächst froh über die frische Luft. Für die bevorstehende Abfahrt ziehen sich die meisten Cyclistes jedoch bald eine schützende Windjacke über. Uns hingegen kann die Temperatur egal sein – wir haben unsere warmen Motorradsachen an!

Abends treffen wir die anderen auf dem Zeltplatz wieder. Wir erzählen von unserer Fahrt nach Sault und auf den Ventoux, die anderen schwärmen von der Ardèche. Nach dem gemeinsamen Essen steht endgültig fest: die Provence hat tolle Straßen für uns Motorradfahrer – egal ob links oder rechts der Rhône…

Am nächsten Tag kommen Martina und ich auf unserer gemeinsamen Weiterfahrt mit den vier anderen gleich noch einmal durch Sault. Als wir jedoch gerade in den Ort hineinfahren, passiert es: Martina befindet sich gerade an einer Steigung mitten in einer 180°-Kehre, als ihr von oben ein PKW entgegen kommt. Der Autofahrer schneidet die Kurve etwas, und so ist Martina gezwungen, plötzlich anzuhalten. Blöderweise bekommt sie aber wegen der ansteigenden Fahrbahn hier ihre Füße nicht mehr auf den Boden. Die Transalp fällt unter ihr um. Sie kann nichts dagegen tun. Der Autofahrer fährt seelenruhig davon.

Ich sehe den Sturz zufälligerweise im Rückspiegel. Wieder schießen mir böse Erinnerungen durch den Kopf. Ich bremse und würge meine F 650 absichtlich am Berg ab. Das Motorrad steht im ersten Gang, ich klappe schnell den Seitenständer heraus und laufe zurück, um Martina zu Hilfe zu kommen.

Sie ist wütend und enttäuscht zugleich. Gemeinsam stellen wir die Honda wieder auf die Räder. Ich lasse das Motorrad zunächst ein paar Meter bis vor die Kurve zurück rollen. Auf den ersten Blick fällt mir lediglich auf, dass der rechte hintere Blinker zerbrochen ist. Drei, vier Kunststoffteile liegen vor mir auf dem Fahrbahnbelag herum. Instinktiv sammle ich die Einzelteile auf und stecke sie in meine Jackentasche. Martina möchte, dass ich die 600V bis um die Kurve herum fahren soll. Ab hier übernimmt sie ihr Motorrad wieder selbst. Ein paar Meter weiter haben wir bereits das Ortseingangsschild passiert. Kurz später stehen unsere beiden Maschinen unter Platanen auf einem großen sandigen Platz, der normalerweise nur für Fußgänger reserviert ist. Ein paar Bänke stehen zwischen den Bäumen mit der markanten Rinde herum. Hier können wir in Ruhe den Schaden betrachten.

Der Motorschutzbügel ist etwas verbogen – kein Problem, denn das ist ja schließlich seine Aufgabe bei einem Sturz. Der Schaden wird sich daheim mit dem entsprechenden Werkzeug wieder richten lassen. Hinten am Blinker hängt die Glühlampe im Wind leicht pendelnd am Kabel. Die kleine, nackte Leuchte vermisst eindeutig die Halterung aus Kunststoff.

Inzwischen sind auch die vier Freunde bei uns eingetroffen. Zum Glück hatte ich ein kleines Päckchen 2-Komponenten-Klebstoff eingepackt. Während die anderen aus einem nahegelegenen Lebensmittelgeschäft ein paar Leckereien wie Baguette, Salami und Käse für unser zweites Frühstück organisieren, hole ich die Kunststoffteile aus meiner Jackentasche heraus und setze sie probeweise zusammen. Alles passt! Dann mische ich eine klebrige Mischung aus Kunstharz und Festiger für eine 1a-Blinker-Reparatur zusammen. Zum Glück sind die Teile des Blinkers sehr reparaturfreundlich zerbrochen. Das Puzzle lässt sich prima zusammensetzen. Dank des Klebers ist der Blinker tatsächlich nach sage und schreibe einer Viertelstunde wieder vollkommen einsatzbereit! Zwar stört eine hellbraune, inzwischen ausgehärtete Klebernaht zwischen den Einzelteilen den „optischen Eindruck“ ein wenig – für die Haltbarkeit ist das jedoch kein Manko. (Übrigens: selbst heute noch ist dieser reparierte Blinker an der Honda weiterhin im Einsatz!)

Nach der Reparatur und dem kurzen Imbiss steigen wir wieder auf und lassen die Motoren an. So verlassen wir Sault. Bald werden die Berge der französischen Seealpen auf unserer Weiterfahrt immer höher. Eine weitere Pause machen wir mittags auf dem Signal de Lure – einem hohen Aussichtsberg kurz vor Sisteron und Digne-les-Bains. Ein wenig erinnert der baumlose Gipfel an den Ventoux – es ist hier oben aber wesentlich windgeschützter und daher viel wärmer. In der Sonne können wir im kurzen T-Shirt sitzen.

Schließlich befinden wir uns am späten Nachmittag ganz im südöstlichsten Zipfel Frankreichs in der Nähe unseres nächsten alpinen Leckerbissens: in Sospel, etwa 30 Kilometer nördlich von Nizza, errichten wir unser „Basislager“ auf dem Camping Municipal.

Am nächsten Tag wollen wir einem Hinweis im „Denzel“ folgen und ohne Gepäck fahren, so sei die Ligurische-Grenzkamm-Höhenstraße leichter zu bewältigen. Martina, Doris und Holger werden uns nicht begleiten: sie zieht es an die Küste, um dort einen ruhigen Tag am Strand zu verleben. Martina und ich haben inzwischen die Motorräder getauscht: auf der F650 bekommt sie mit ihren kürzeren Beinen die Füße besser auf den Boden – sie fühlt sich auf der kleinen BMW einfach sicherer. Es dauert gar nicht lange, da brummt sie selbstbewusst wie früher durch die Kurven. Es ist ein guter Tausch!

Hans, Hartmut und ich fahren genau in die entgegen gesetzte Richtung. Die „Drei-Sternchen-Straße LGKS“ ist ein alter, bereits vor dem ersten Weltkrieg begonnener und von Mussolini-Italien vor dem zweiten Weltkrieg fertiggestellter Militärweg, der sich mal auf italienischem, mal auf französischem Gebiet (sie nahmen es damals wohl nicht so genau...) in einer Höhe von etwa 2000m außerhalb der Sichtweite der gegnerischen Stellungen meist an schroffen Abhängen entlang schlängelt. Leitplanken oder ähnliche Absicherungen soll es nicht geben. Uns erwartet eine 85 Kilometer lange auch mit Spitzkehren durchsetzte Schotterstrecke zwischen dem Ausgangspunkt am legendären Col de Tende im Norden und dem italienisch-ligurischen Dorf Pigna im Süden.

Wir drei sind mit den ersten Sonnenstrahlen zeitig aufgestanden. Die Frühstückszeremonie ist heute deutlich kürzer als sonst. Jeder von uns ist etwas aufgeregt! Die Marschverpflegung und die Wasserflasche wird im Tankrucksack untergebracht. Ehrfürchtig lasse ich die Trans Alp an. Vollgetankt hatten wir unsere Motorräder bereits gestern am Abend. In der inzwischen angenehm warmen Morgensonne geht es endlich los. Nach einer knappen Stunde brummen wir die zahllosen Kehren des Col du Tende hinauf. Oben am alten Fort Centrale ist erster Zwischenstop. Bereits hier sind wir ordentlich eingestaubt, denn die kurvenreiche Auffahrt zum Col du Tende ist zum allergrößten Teil ungeteert – und geregnet hat es schon lange nicht mehr!

Wir parken die Maschinen auf einem eingeebneten Platz vor der alten Kaserne. In den dicken Mauern befinden sich zahllose Öffnungen für schwere Geschütze. Im zweiten und dritten Stockwerk werden die Schießscharten immer kleiner. Oben auf dem Dach wächst dichter Rasen. Über eine Leiter, die an eine Geschützöffnung des ersten Stockwerks gelehnt ist, gelangen wir in die Festung hinein. Obwohl das Bauwerk seit über einhundertzwanzig Jahren den Stürmen und Wetterunbilden auf über 1900 Höhenmetern trotzt, sind die Mauern noch recht gut erhalten: Unterkünfte, Kantine, Stellungen, Gräben, Lagerräume – teils mit alten, verwitterten Aufschriften. Vergleichbar absurde Erinnerungen an den Wahnsinn der europäischen Kriege findet man auch noch in Südtirol und im Trentino. Wie schön ist es doch, dass wir heute an den meisten Grenzen in Europa nicht einmal mehr zur Ausweiskontrolle anhalten müssen.

Die Weiterfahrt auf der Ligurischen Grenzkammstraße führt insgesamt über fast zehn Pässe, und die wirklich „dicken Brocken“ liegen allesamt gleich im ersten Drittel: der Col de la Boaire (2102m), der Colle Malaberghe ((2225m) und der Col des Segnieurs (2111m) quälen die Maschinen und uns gewaltig. Ständig suchen unsere Augen nun vor den Vorderrädern nach der besten Fahrspur. Die Schotterpiste schlängelt sich dabei durch eine von Felsen durchsetzte, baumlose Hochgebirgslandschaft. Das Wetter spielt auch mit: es ist weiterhin trocken und sonnig. Nur an einigen exponierten Stellen wird es nebelig, wenn wir in eine vorbeiziehende Wolke hineinfahren, die uns dann die Sicht versperrt. Auch nicht schlecht – so bemerken wir nicht alle der zum Teil extremen Abgründe unmittelbar neben dem ungesicherten Weg...

Die von Anfang bis Ende durchgehend einspurige Hochgebirgspiste ist insgesamt wirklich sehr anspruchsvoll, aber mit Geschick und etwas Erfahrung abseits der Teerstraßen durchaus zu schaffen. Probleme bekommen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diejenigen, die es während einer normalen Etappe gleich „im Transit“ mit zu schwerem Gepäck oder aber gar auf Straßenmotorädern mit geringer Bodenfreiheit versuchen. Der teilweise sehr lose Schotter ist von üppiger Qualität: kilometerlang wechselt er nur zwischen Pingpongball- und Faustgröße, gelegentlich ist in dem ständig knirschenden Fahrbahnbelag auch mal ein pampelmusen- oder gar handballgroßer Brocken dabei. Sollte man ein solches Hindernis unachtsam treffen, dann beginnt ein wackeliger Tanz.

An einer besonders fotogenen Kurve stehen zahlreiche Motorräder am Wegesrand. Entweder wollen die Leute sehen, wie wir auf dem lausigen Schotterabschnitt der knallengen Serpentine doch stürzen – oder sie machen einfach nur eine Pause und haben selbst Respekt vor der gesamten Piste: alle nicken grüßend, als wir langsam voran rumpelnd an ihnen vorbei fahren. Der Lenker ist kaum ruhig zu halten. Jetzt bloß keinen Fehler machen oder gar umfallen – das wäre mehr als peinlich!

Am Wegesrand etwas weiter unten steht eine GS 1150 Adventure mit hessischem Kennzeichen. Das Motorrad ist über und über beladen. Der Fahrer beobachtet uns zwar neugierig, hält sich aber mit dem sonst üblichen Gruß demonstrativ zurück. „Ach, so einer…!“, denke ich, als er schließlich doch die Hand fast gequält ein wenig anhebt. Weiter geht es quer durch eine baumlose Landschaft. Zwischen den zahllosen, hellgrauen Felsbrocken, die zum Teil die Größe von Einfamilienhäusern haben, wächst überall grünes Gras und niedriges Buschwerk. Weidevieh ist aber nirgends zu sehen.

Während wir selbst eine halbe Stunde später bei Sonnenschein in einem muldenförmigen Kessel neben einem dieser riesigen Felsbrocken unmittelbar neben der Piste eine erste Pause mit Wasser, Baguette und etwas Obst einlegen, beobachten wir, dass uns die silberne Adventure inzwischen langsam folgt. Als der Fahrer uns schließlich erreicht hat und unsere deutschen Kennzeichen beim Vorbeifahren offenbar bemerkt, hält er an. „Die algerische Sahara ist deutlich einfacher zu fahren!“ sind seine ersten Worte. „Kommt ihr mit euren Trans Alp denn hier eigentlich zurecht?“

Uns verschlägt es fast die Sprache. Demonstrativ fingert der Typ auch noch an seinem Helmkabel, dem GPS und seinem Roadbook herum. Ich blicke Hans an – er schaut zurück: warum müssen wir uns das hier eigentlich anhören? Inzwischen hat der Typ jedoch sein Motorrad abgestellt und „beehrt“ uns nun erst recht mit seiner Gegenwart. Dabei bekommen wir viele gute Ratschläge von „Mister Perfekt“, nämlich über das Anfahren am Berg, die beste Kurvendurchfahrt bei Schotterpisten und dem Bremsen am Hang. Hören will das keiner von uns.

Er merkt es einfach nicht, dass er bei uns zu sehr übertreibt – da bohrt Hans nun nach, stellt ein paar Fragen über sein Motorrad und das große Gepäck, und schließlich gibt er doch zu, dass er mit seiner 400kg-Fuhre hier oben gewisse Probleme bei losem Schotter hat.

Jetzt kommt Hans erst richtig in Fahrt: er behauptet ganz einfach, der schlimmste Streckenabschnitt sei ja ohnehin vorbei, und ab hier ginge es deutlich einfacher voran. Das macht Eindruck. Ohne dass er uns antworten kann steigen wir jedoch rasch auf und fahren nach einem kurzen Abschiedsgruß weiter.

Von wegen „vorbei“: kaum sind wir einen knappen Kilometer weiter, beginnt ein kurzer, aber wirklich fieser Steilanstieg, der mit handballgroßen, runden Steinen, die untereinander überhaupt keinen festen Halt haben, übersät ist. Ich fahre im ersten Gang mit reichlich Gas – bloß nicht kuppeln und den Kraftschluss unterbrechen. Ein paar mal dreht das Hinterrad durch und der Lenker will dabei wie wild von links nach rechts schlagen. Meine Hände umfassen die Griffe dabei völlig verkrampft. Ich muss beide Füße stützend nach unten strecken und über die Steine schleifen lassen. Mehr Gas! Der Weg ist geschätzt knappe drei Meter breit – es gibt natürlich keine Leitplanke – dabei geht es seitwärts rechts steil und tief hinunter. Ich spüre förmlich, wie das durchdrehende Hinterrad Steine und Geröll wegspritzen lässt. Das Fahrzeugheck wackelt von links nach rechts. Ein paar Spitzkehren folgen dann auch noch dicht aufeinander, kaum bin ich bei einer 180°-Kehre außen herum gekommen, folgt auf den ersten Metern der nächsten Gerade auch noch brutales Wellblechmuster. Bloß nicht vom Gas gehen…

Die TransAlp ist tapfer und zäh! Die anderen warten oben auf mich. Jeder von uns ist froh, diesen Anstieg gemeistert zu haben. Bevor wir weiter fahren, blicken wir bei laufenden Motoren noch einmal zurück – dabei springt bei meinem Motorrad der Kühlventilator an. Ganz unten erkennen wir in der Mulde die immer noch abgestellte Adventure. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein dermaßen schwer beladenes Motorrad diesen Anstieg meistern kann. Egal, wie stark der Motor auch sein mag…

Ich klappe mein Visier hoch und schaue zu Hans hinüber. Als er meinen Blick bemerkt rufe ich laut: „… das Schlimmste ist vorbei! – Du Lügner!“ Ich habe Hans noch niemals so herzlich lachen hören wie in diesem Moment. In allerbester Laune fahren wir weiter…

In der zweiten Weghälfte sind die Berghänge dann aber tatsächlich nicht mehr ganz so schroff und immer häufiger von dichten, grünen Mischwäldern bewachsen. Von Süden her sind zahlreiche Wochenend-Ausflügler mit ihren Autos herauf gekommen und machen nun neben der Piste Picknick. Gelegentlich bessert sich sogar der Fahrbahnbelag, und wir können bis in den dritten Gang hinaufschalten. Fast kommt bei 40km/h ein kleiner Geschwindigkeitsrausch auf. Aber immerzu müssen wir aufpassen, denn der Fahrbahnbelag kann sich jederzeit ohne Vorwarnung wieder verschlechtern.

Bei einer weiteren Pause passiert ein Missgeschick: Hans stellt seine Honda auf dem Seitenständer so unglücklich ab, dass sie irgendwann im Leerlauf langsam nach vorne rollt und umstürzt. Bei diesem an und für sich ungefährlichen Sturz verbiegt jedoch der Handbremsgriff. Das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, aber man sollte nicht versuchen, einen Druckguss-Griff wieder gerade zu biegen. Genau aber das versucht Hans, und der schwarze Griff bricht gleich am Hebelanfang ab. Die Rückfahrt zum Zeltplatz nur mit Fußbremse auf einer zum Glück breiten, jedoch von Auswaschungen übel zerstörten Schotterpiste hunderte von Höhenmeter hinunter nach La Brigue und von dort auf einer stark befahrenen Route Nationale weiter nach Sospel ist mehr als abenteuerlich. Aber Hans ist ein wirklich erfahrener Biker und kommt durch.

Abends gibt es an den Zelten viel zu erzählen – vom Mittelmeer und dem vornehmen Hotel, dass seine Dusche den Motorradfahrern „freundlicherweise“ ganz einfach so zur Verfügung gestellt hatte – und natürlich vom Grenzkamm, der uns einen ganzen Tag lang handfest beschäftigt hat – und die Geschichte vom abgebrochenen Handbremsgriff zum Schluss ganz besonders. Doch während wir noch erzählen, entdeckt Hans zu allem Überfluss, dass sein Hinterreifen Luft verliert. Im Profil entdeckt er eine dicke, harte Dorne, die es geschafft hat, den festen Reifenmantel und auch den Schlauch zu durchdringen.

Spätestens jetzt ist endgültig klar, dass wir vor der Rückreise nach Deutschland hier in Südfrankreich unbedingt einen weiteren Tag einplanen müssen, um einen neuen Schlauch und erst recht einen Bremshebel zu organisieren.

Am nächsten Vormittag ergibt sich in der Hondaniederlassung im mondänen französischen Küstenort Menton, dass der passende Handbremshebel für eine Honda PD6 natürlich nicht vorrätig ist, sondern erst bestellt werden muss und vermutlich in 3-4 Tagen ankommen soll. Unsere Gesichter werden dabei immer länger. Jedoch gäbe es noch einen weiteren Honda-Motorradladen irgendwo in Monaco. Der Anruf dort bleibt allerdings erfolglos – niemand nimmt den Hörer ab. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als auf gut Glück hinzufahren.

Das Hinterrad, das Hans als Sozius von Hartmut neben sich hängend auf der Transalp festgehalten hatte, bleibt zur Reparatur gleich hier – auf der Rückfahrt sollen wir wieder vorbei kommen. Dann wäre ein neuer Schlauch montiert.

Bereits nach einer weiteren halben Stunde haben wir uns im engen Straßenwirrwarr Monacos hoffnungslos verfahren. Niemand kann uns Auskunft geben, wo sich die Honda-Niederlassung befindet, kein Wunder, denn die viele Verkehrsteilnehmer fahren Porsche, Jaguar, Ferrari…. So stehen wir am Straßenrand vor einem Kiosk und brauchen dringend wirklich ortskundige Hilfe. Just in diesem Augenblick kommt ein Motorrad-Polizist aus dem kleinen Geschäft. Sein Dienstfahrzeug hat er im Schatten der Nebenstraße geparkt.

Um es gleich vorweg zu nehmen: er sieht phantastisch aus! Ohne jedwede Änderungen seiner Garderobe hätte er in einem Streifen à la „Auf dem Highway ist die Hölle los!“ mitspielen können: auf Hochglanz polierte schwarze Langschäfter, dunkelblaue Reithose mit seitlichen, gelben Nahtstreifen, das kurzärmelige Hemd ist in der hellen Vormittagssonne so blenden weiß, dass wir ihm kaum in die Augen sehen können, aber die hätten wir sowieso nicht erkennen können: eine silbern verspiegelte Sonnebrille sitzt mitten in seinem Menjoubärtchen-verzierten Gesicht. Den kleinen, natürlich ebenfalls reinweißen Jethelm hält er noch in den schwarz-lederbehandschuhten Händen. Die goldene Dienstmarke an der Brusttasche seines Hemdes funkelt mehr als edel in der Sonne.

Dieser Prachtpolizist eskortiert uns nun wie selbstverständlich nach einer kurzen „Funkanfrage“ in der Zentrale überraschend „zügig“ durch die engen und kurvenreichen Straßen und Gassen des kleinen Fürstentums. Dabei bewegt er seine, wie hätte es auch anders sein können, natürlich ebenfalls blendendweiße und mit großen, goldenen monegassischen Fürstenwappen an den Seiten der Vollverkleidung verzierten BMW R1150 RT dermaßen flott durch das Fürstentum, dass wir ihm wirklich nur mit Mühe und heftigen Gasstößen folgen können. Bei der Geschwindigkeit hätte er eigentlich auf Blaulicht schalten müssen, denn es werden nicht im Entferntesten die geltenden Verkehrsregeln eingehalten. Was für ein „vorbildliches“ Verhalten, Monsieur! Aber wir bleiben tapfer dran.

Dann wird es für ihn doch kurz peinlich, er hat uns nämlich zum Suzukihändler gebracht. „No, Monsieur! Nous ne cherchon pas Suzuki, mais le garage de l´Honda!“ Erst kommt ein kurzes, ratloses Pusten aus dicken Backen, dann eine weitere Funkanfrage in der Zentrale – in diesem Moment ist unser „Motard-Gendarme“ sichtlich etwas verärgert! Nach einer knappen Minute ertönt schließlich eine krächzende Ansage aus dem Lautsprecher hinter der Tourenscheibe. Ohne ein weiteres Wort startet er den Motor und gibt uns mit unbeweglichem Gesicht einen kaum erkennbarer Wink mit der Handschuhhand.

Weiter geht es. Bislang war ich der Meinung, man sollte und müsste mit einem Motorrad nicht unbedingt eine Tiefgarage aufsuchen. Aber bei der Fortsetzung der „Operation Honda“ jagen wir haarscharf und natürlich ohne Einlassquittung neben der geschlossenen Absperrungsschranke vorbei in die große und enge Tiefgarage hinein, die sich - zentraler geht es in Monaco nicht - ganz unten im fürstlichen Schlossfelsen befindet. In dem engen und unübersichtlichen Halbdunkel bringen wir im weiteren Verlauf unserer Fahrt mehrere uns entgegenkommende Autofahrer zu hektischen Notbremsungen. Nach etlichen 90°-Kurven verlassen wir schließlich die Garage genau auf der gegenüberliegenden Seite - wieder ganz knapp vorbei an der geschlossenen Schranke auf jener schmalen Spur, die hier offensichtlich für motorradfahrende „Nichtzahler“ reserviert ist. Und plötzlich stehen wir keine Minute später unmittelbar vor dem Hondaladen.

„Voilá, Honda!“ und zum ersten mal lächelt er uns an. Wir heben noch etwas benommen von der gerade abgedrehten Filmszene dankend die nassgeschwitzten Hände vom Lenker. Ein kurzes Tippen mit dem Zeigefinger an den Helm, dann sagt er lediglich „Bon voyage, Messieurs!“ und braust, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt, als mit einem Motorrad durch Monaco zu brettern, wieder davon. Unser „Merci beaucoup!“ hat er hoffentlich noch gehört.

Was für ein Job: Polizeistreife in Monaco! Und um auch das noch zu erwähnen: wir bekommen für die alte PD6 tatsächlich einen Handbremshebel, und es ist definitiv der letzte, der in der Hondaniederlassung in Monaco noch vorrätig ist.

Auf dem Rückweg holen wir auch das inzwischen reparierte Hinterrad in Menton ab. Was für ein „Happyend“ vom Ligurischen Grenzkamm…

Die beginnende Heimreise bringt uns am nächsten Nachmittag den letzten alpinen Superspaß dieser Reise: 10 Kilometer nördlich von Barcelonnette liegt der Col de Parpaillon, und auf der MICHELIN-Karte 245 ist in roter Schrift gleich daneben „passage incertain“ vermerkt – die Durchfahrt kann also ungewiss sein, und das gilt auch im Hochsommer. Wie bei der „LGKS“ handelt es sich auch beim Col de Parpaillon um eine ungeteerte, aber öffentlich befahrbare Bergstraße. Der Schotterbelag ist aber wesentlich „ziviler“ als jener vom Grenzkamm. So wollen wir es auch wagen, die abgelegene Bergstraße gleich im Rahmen der Tagesetappe mit vollem Marschgepäck zu fahren. Das Training vom Ligurischen Grenzkamm soll sich hier auszahlen.

Zunächst verfahren wir uns jedoch gleich einmal, beachten in einer Kehre nicht die karg ausgeschilderte Abzweigung in das weite Parpaillontal hinein und landen schließlich in der zur Zeit verlassenen kleinen Skistation Sainte Anne la Condamine.

Zwei Kilometer weiter unten beginnt sie bereits, jene im weiteren Verlauf wieder ungeteerte Straße, die uns zunächst durch dichten Wald hinauf in ein schließlich immer breiter werdendes, wildes Hochgebirgstal führt. Kehre auf Kehre schrauben wir uns hier oben auf der einspurigen, gelegentlich von 4x4ern etwas ausgefahrenen Schotterpiste hinauf. Mit jedem Höhenmeter wird die Aussicht immer grandioser. Ganz unten erkennen wir schließlich unsere Straße als winzig kleinen Strich auf dem baumlosen Talboden.

In einer Höhe von stattlichen 2645m erreichen wir nach abenteuerlicher Bergfahrt am höchsten Punkt der Straße einen kleinen Wendeplatz. Weiter hinauf führt die Straße nicht. Hier beginnt der Scheiteltunnel der Straße, der bereits im Jahr 1892 vom französischen Militär erbaut wurde. Eine Steinplatte neben dem Tunneleingang weist darauf hin.

Das große Eisentor zum unbeleuchteten Tunnel steht offen – die Passage ist heute also möglich. Allerdings warnt gleich neben dem Eingang ein Hinweisschild vor eventuellen Vereisungen im 500m langen und natürlich einspurigen Tunnel – risque de glace – und das gilt hier auch im Sommer!

Eis finden wir nicht, dafür warten einige Wasser- und Schlammpfützen auf uns, und gleich die erste kurz hinter der Tunneleinfahrt ist so tief, dass der heißgefahrene Motor das Wasser heftig verdampfen lässt. Wir fahren langsam weiter über den schlammigen aber darunter festen Fahrbahnbelag im stockfinsteren Tunnel. Es tropft heftig von der Decke herab. Weit voraus wird bald ein kleiner, hufeisenförmiger Fleck sichtbar, der langsam größer wird. Schließlich haben wir das Nordportal des Tunnel du Parpaillon erreicht.

Die Talfahrt nach Embrun an der Route National 94 hinab erweist sich als einfacher zu fahren als die vorherige Bergfahrt. Die Straße hat einen festgefahrenen Kiesbelag, und nur ganz wenige lockere Steine mahnen immer noch zur Wachsamkeit. Eine kurze aber recht tiefe Bachfurt in einer engen Kehre erfordert noch einmal etwas Mut. Eigentlich Schade, denn hier wird der „schöne Tunnelschlamm“ gleich wieder abgewaschen. Die XL 600V sah gerade so kernig aus...

Am nächsten Morgen müssen wir uns trennen. Die anderen wollen noch ein paar Tage bleiben, haben sogar vor, im nahen Italien über die Assietta Hochstraße zu fahren. Das wäre zwar auch etwas für mich, aber für Martina und mich beginnt heute die Heimreise. In spätestens drei Tagen müssen wir wieder in Norddeutschland sein. Allerdings wollen wir unterwegs unbedingt noch durch die Schweiz und dort über einige „leckere“ Alpenpässe brummen.

Wir brechen bei leichtem Regen in Briançon auf und überqueren eingereiht in einer nicht enden wollenden Schlange von schwerfälligen Wohnmobilen den Col du Galibier. Unsere Überholmanöver fallen wegen der nassen Fahrbahn immer öfter aus – es ist einfach zu gefährlich. Die Auffahrt auf der Route du Galibier ist an vielen Stellen unübersichtlich schmal. Erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit die Jungs während der Tour de France hier bergab brettern. Längst haben wir unsere Heizgriffe eingeschaltet. Das Visier ist trotz des Regens etwas geöffnet. Bei der kalten Bergluft beschlägt die Klarsichtscheibe ständig und muss gelüftet werden. Es macht einfach keinen Spaß, sich bei Regen und dann auch noch zwischen zahllosen nach Dieselabgasen stinkenden Wohnmobilen bergauf zu quälen. Heute nehmen wir sogar freiwillig den gut 360m langen Scheiteltunnel. Wir müssen an der Ampel vor dem einspurigen Tunnel nicht lange warten, dann lässt uns die höchstgelegene Ampelanlage Europas, wir sind hier immerhin 2556m hoch, auch schon weiter fahren.

Zum Glück hört auf der Nordseite der Regen während der Talfahrt hinab kurz vor Valloire auf. Die Straße ist bald wieder völlig trocken und wir können die breiten und bunten Beschriftungen, die mit Lackfarbe in italienisch, englisch oder französisch auf den Teerbelag gepinselt wurden und die die Cyclistes während der Tour anfeuern sollen, richtig genießen. Auch die Wohnmobile sind nun keine ernsten Hindernisse mehr. Wir kommen gut voran in Savoyen.

Gegen Mittag haben wir den Col de l ´Liseran erreicht. Inzwischen scheint auf 2770m Höhe sogar wieder die Sonne. Unsere Stimmung ist entsprechend gut. Der Pass ist einer der höchsten im gesamten Alpenraum. Während wir ins Val d´Isère hinabfahren, stehen neben de Fahrbahn Hinweisschilder für Skipisten. Im Winter ist der Pass komplett für mehrere Monaten gesperrt. Dann wedeln Skifahrer hier auf der Trasse entlang und biegen während der Abfahrt von der eher moderat steilen Fahrbahn je nach Können auch einmal ab – dann geht es auf schwarzen Pisten über die tief verschneiten Hänge steil hinab ins Tal. Wir bleiben mit den Motorrädern natürlich hübsch brav auf der Straße…

Gegen Mittag haben wir Bourg St. Maurice erreicht und füllen die Tanks unserer Maschinen an der Zapfsäule eines großen Supermarktes auf. Martina entdeckt im Eingangsbereich des Marktes einen Hähnchengrill. Die Tüte mit zwei köstlich duftenden halben Hühnern verpacke ich sorgfältig in mehrere Kunststofftaschen eingewickelt im Topcase. Oben drauf kommt noch ein frisches Baguette aus der Bäckerei. Wenig später brummen wir mit unserem künftigen Mittagessen die Kurven hinauf zum Kleinen Sankt Bernhard, ständig auf der Suche nach einem sauberen und gemütlichen Picknickplatz.

Den haben wir auch bald in einer langgezogenen Serpentine an einem Lagerplatz mit frisch gefällten Baumstämmen gefunden. Dann sitzen wir auf einem der Stämme und schmausen unser immer noch ausreichend heißes Mittagessen. Doch dann verschwindet die Sonne. Dunkle Gewitterwolken ziehen sich rasch zusammen. Der erste Donner ist zu hören, und wir haben keine Zeit mehr, unser Essen zu beenden. Rasch wickeln wir die Reste in der Tüte ein, waschen uns die fettigen Finger in einer vom vorletzten Guss noch übrig gebliebenen Regenpfütze, dann fallen auch schon die ersten, dicken Tropfen. Jetzt bloß schnell machen! Ruckzuck ziehen wir uns heute die Regenkombis zum zweiten mal an.

Und das war eine weise Entscheidung! Die Fahrt über den Pass in das bereits italienische Courmayeur im Aostatal wird eine patschnasse Tour! Zum Glück bleiben Blitze und Donner in Frankreich zurück. Nur den Regen nehmen wir noch ein Weilchen mit. Irgendwann ist aber auch dieser Guss wieder vorbei. Neben der Straße finden wir einen großen Silo für Rollsplitt. An dieser Winterdienst-Auffüllstation halten wir kurz an und ziehen die Regensachen wieder aus. Dann geht es schon wieder weiter.

Die SS26 hinunter nach Aosta ist keine schöne Straße. Sie ist eine überbreite, begradigte und langweilige Fernstraße, die im Aostatal gleich neben der Autobahn verläuft. Nach den vergangenen Urlaubstagen sind wir eindeutig bessere Motorradstrecken gewohnt.

Da wir jedoch dem Sommergewitter in Richtung Italien ausgewichen sind und die Schweiz auf keinen Fall durch den unangenehmen Mont Blanc Tunnel und das überlaufene Chamonix erreichen wollen, führt für uns nun mal kein schnellerer Weg hinüber zu den Eidgenossen als auf dieser Fernstraße entlang und dann über den Großen Sankt Bernhard. Zum Glück hält sich das Verkehrsaufkommen in Grenzen.

Während wir hinter Aosta auf der weiterhin überbreiten Straße in Richtung Norden bei eintönig gleichbleibender Steigung wieder bergauf fahren, holt uns der Regen heute zum dritten mal ein. Wir freuen uns dann tatsächlich, als wir die hässliche Galerie erreichen, die die Straße im ihrem weiteren Verlauf komplett überdacht und damit den Pass auf italienischer Seite im Winter dauerhaft befahrbar machen soll – jetzt schützt uns das Dach nämlich wirkungsvoll vor dem heftigen Dauerregen, der uns den Abschied aus Italien leicht macht.

Insgeheim hoffe ich, dass wir auf der schweizerischen Nordseite des Bernhards noch ein weiteres mal Glück haben werden und dann im Trockenen nach einem Campingplatz suchen können. Immerhin wird es inzwischen auffallend dunkel – oder sind das nur die schweren Regenwolken, die kein Licht mehr durchlassen wollen?

Irgendwo mitten im Tunnel verläuft die Grenze. Obwohl die Luft in der langen Röhre nicht gerade frisch ist, genieße ich doch die Wärme und Trockenheit. Nach dem nördlichen Tunnelportal ändert sich das alles schlagartig! Die Schweiz ähnelt an hier einer Autowaschanlage – so heftig peitscht der Regen jetzt auf uns herab. Ohne Absprache ist klar, dass wir nicht mehr nach einem Campingplatz suchen sondern nach einer festen Unterkunft. Wir müssen aber noch eine ganz Weile durchhalten: erst kurz vor Martigny haben wir unser Tagesziel in Sembrancher endgültig erreicht. Auf dem Dorfplatz sitzen dort einige ältere Einheimische unter einem großen Vordach auf einer Bank zum Schwätzchen und erklären uns freundlich den Weg zum Bahnhofsgebäude. Dort sei das einzige Hotel im Ort. Sonst gäbe es hier keine andere Unterkunft. Das macht die Auswahl nun wirklich einfach.

Zwei Minuten später stellen wir die beiden Motorräder vor dem „Hotel Restaurant de la Gare“ ab und nehmen uns dort ein Doppelzimmer. In der Gaststube spielt man Billiard und beäugt uns sehr interessiert. Während wir unser Gepäck mit den triefend nassen Klamotten in den ersten Stock hinauf schleppen, kleckern wir die ganze Treppe nass. Wie soll das erst im Zimmer werden?

Doch die schweizerische Architektur ist auf unserer Seite: unter dem weit ausladenden Dach des alten Gebäudes lassen sich trotz des Unwetters die Fensterläden weit aufklappen und arretieren. An den Metallriegeln können wir dann unsere Garderobe auf Kleiderbügeln außen sicher aufhängen. Wir hoffen sehr, dass die Klamotten trotz Regen und Nachtluft ein wenig trocknen werden.

Die nassen Sachen hängen draußen und wir können uns im Zimmer etwas einrichten. Auch wenn wir nun über den Gang in die Gemeinschaftstoilette huschen müssen – irgendwann sitzen wir zwei nach einer heißen Dusche aufgewärmt und mit trockenen Wechselsachen auf dem Bett und futtern kaltes Hühnchenfleisch, weiches Weißbrot und Camembert. Wir hatten schon schlechter gegessen…

Beim Einschlafen murmelt Martina noch einmal: „Hoffentlich fallen die Sachen nicht runter…“.

Am nächsten Morgen hängen die Kleiderbügel mit unseren Motorradsachen aber immer noch draußen am Fensterladen. Das Rauschen des Regens hatte bereits während der Nacht irgendwann aufgehört. Inzwischen scheint sogar die Sonne, und kein Wölkchen ist am blauen Himmel zu sehen! Die Berglandschaft sieht so harmlos und friedlich aus, als hätte es den vergangenen Regenguss gar nicht gegeben.

Unglaublich, aber die Motorradjacken sind sogar trocken geworden! Unsere Laune ist daher so gut wie das Wetter. Nach dem Frühstück geht es quer durchs Wallis weiter. Sion – Sierre, noch sind die Namen der Ortschaften, durch die wir kommen sämtlich französisch. Die Bergspitzen der Berner Alpen sind hoch oben weiß verzuckert – hatte es nachts etwa Neuschnee gegeben? Auf alle Fälle sind die sommerlichen Temperaturen an diesem Tag hier unten im Rhônetal für uns Motorradfahrer perfekt. Irgendwann erreichen wir die französisch-deutsche Sprachgrenze und passieren bald danach Hinweisschilder, die in Richtung Leukerbad, Zermatt und Saas Fee deuten. Wir haben aber für die berühmten Orte in diesem Urlaub keine Zeit mehr und fahren weiter geradeaus.

Erst im kleinen Ort Ulrichen, nur wenige Kilometer vor dem grandiosen und uns bereits von der Vorjahrestour her bekannten Pässe-Karussell Gotthard-Grimsel-Susten-Furka, biegen wir noch einmal rechts nach Süden ab. Martina möchte unbedingt zum Abschluss noch einmal über ihren Lieblingspass Sankt Gotthard fahren, und der Weg dorthin führt zunächst einmal über den Nufenenpass. Also hinauf!

Aber kaum sind wir wenige Kilometer hinter Ulrichen aus dem Wald heraus, da spüre ich immer deutlicher, wie die Transalp beim Beschleunigen in den Kurven schwammig reagiert. Da ist etwas am Hinterrad ganz und gar nicht in Ordnung. Blinker rechts und anhalten. Die Ernüchterung kommt sofort: der Hinterreifen ist schon fast völlig platt – viel fehlt nicht mehr! Ohne weitere Zeit zu verlieren steige ich wieder auf und wende das Motorrad. Ich fahre langsam aber beständig den Weg zurück. Die Transalp fährt bald immer wackeliger und ich hoffe inständig, dass ich noch rechtzeitig nach Ulrichen zurück komme, bevor die Fuhre auf der Felge aufsetzt! Gleich hinter der Abbiegung in Ulrichen war mir eine Tankstelle aufgefallen. Hoffentlich wird man uns dort helfen können.

Gerade als wir dort ankommen schließen die Monteure jedoch die Tür ab. Mittagszeit – erst in einer Stunde wird es weitergehen. Das ist zwar etwas ärgerlich, aber die Sonne scheint nach wie vor, und eine kleine Pause hatten auch wir ohnehin vor.

Pünktlich um halb zwei kommen die beiden Tankwärter zurück und geben mir zu verstehen, dass die Reparatur nun beginnen kann. Ich hatte inzwischen das defekte Hinterrad bereits ausgebaut. Schnell wird in der kleinen Werkstatt klar, dass ein winziger aber messerscharfer Steinsplitter der Übeltäter und Auslöser für den Plattfuß war. „Eigentlich dürfen wir ja keinen Motorradreifen flicken – aber wir machen das doch mal…!“ Fast hätte ich ihm geantwortet „It´s cool man!“, aber es bleibt bei einem „Merci vielmals!“. Bereits eine dreiviertel Stunde später geht es die gleichen Kurven auf der Nufenenstraße ein zweites mal hinauf – diesmal wesentlich griffiger und präziser in den Kurven.

Am Nachmittag haben wir oberhalb von Ariolo das Kopfsteinpflaster der alten Gotthardstraße, das berühmte Tremola, erreicht. Martina strahlt – es gibt eben echte Lieblingsstraßen. Bereits zum vierten mal sind wir nun mit Motorrädern hier oben – damit haben wir sogar Johann Wolfgang von Goethe übertroffen, der den Gotthard dreimal in einer Pferdekutsche auf seinen Reisen nach Italien überquert hatte – bestimmt auch eine abenteuerliche Tour!

Hinter Andermatt kommt der letzte Alpenpass dieser Tour, der Oberalp-Pass. Ein wenig traurig bin ich schon bei dem Gedanken, dass ich bald die wirklich letzte Serpentine dieses Urlaubs hinter mir haben werde. Nach der Passhöhe halten wir an einer kleinen Brücke neben der Straße an und machen ein letztes Foto vor hochalpiner Kulisse. Bei einem Blick auf die Karte wird uns klar, dass der kleine Bergbach, an dem wir hier stehen, kein anderer als der Vorderrhein ist

Wir bleiben dem Rhein ab hier treu und fahren während des Nachmittags über Chur, Liechtenstein und das österreichische Bregenz bis zum Bodensee. Dort übernachten wir auf einem Zeltplatz unter riesigen Hopfenpflanzen ein letztes mal.

Am nächsten Tag kommen wir nach 12 erlebnisreichen Urlaubstagen, 4200 Kilometern und einem geflickten Reifen, der anschließend zum Glück tapfer durchhielt, wieder zu Hause an. Die TransAlp wie auch die F650 haben während der Tour mehr als einmal ihre Langstreckentauglichkeit auf unterschiedlichsten Straßen bewiesen.

 

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