Drei tolle Tage… Flagge Frankreich       

 

Ein ganzes Jahr ist seit der Westalpentour vergangen. Inzwischen ist allerhand passiert. Wir haben im Frühjahr Nachwuchs bekommen, und die kleine BMW F650 wurde kurz vorher verkauft. Obwohl sie sich während der  Sommertour nach Südfrankreich von ihrer besten Seite gezeigt hatte, war sie für mich letztendlich doch nicht der richtige Ersatz für meine ehemalige K75. Es gab mehrere Gründe dafür, dass einfach keine intensive Beziehung beginnen konnte. Die ständige Einzylinder-Ruckelei beim Beschleunigen aus niedrigen Drehzahlen heraus hatte mich von Anfang an gestört – bei der K75 war das völlig anders gewesen. Außerdem war es meine Frau, die die F650 eigentlich den ganzen Sommer über gefahren hatte – während dieser Zeit war mir ihre TransAlp wirklich sehr ans Herz gewachsen, und die intensive Erinnerung an die Ligurische Grenzkammstraße mit der Honda kam für mich ja auch noch hinzu. Doch nun mehr zu unserem Nachwuchs.

Als ich im März „rein zufällig“ im Internet nach anderen Motorrädern Ausschau hielt, sah ich „sie“ auf einem Foto zum ersten mal: eine wundervolle, blau-weiße BMW R 1150 GS, und ich muss gestehen, es war Liebe auf den ersten Blick! Obwohl meine Frau eigentlich Grund genug zu heftiger Eifersucht gehabt hätte, stimmte sie trotzdem sofort zu, dass ihre TransAlp ein neues Mitglied in unserer gemeinsamen Motorrad-WG bekommen sollte. Sie weiß, was ein „Traummotorrad“ für mich bedeutet!

Als die F 650 verkauft und abgeholt wurde, war ich nicht besonders traurig – ein sicheres Indiz für keine tiefgehende aber eine gute Ausgangslage für eine neue Beziehung.

Ich habe es immer noch nicht vergessen: genau am 23. März beginnt nach wirklich langer Freundschaft mit einem Dreizylinder-Reihenmotor und einer kurzen Einzylinder-Liaison für mich die Boxer-Ära. Von Anfang an ist mir sofort klar: das ist mein Motorrad! Schon bald sind alle meine alten Lieblingsstraßen neu befahren, und jede Tagestour ist mit der 1150 ein Genuss, der mich hinterher regelmäßig ins Schwärmen bringt.

 

Dann kommt das lange Pfingstwochenende: die erste Langstreckenfahrt mit ein paar Freunden in die französische Lorraine und die Vogesen bringen die endgültige Erkenntnis, dass ich das beste Motorrad der Welt besitze. Ich bin rundum glücklich! 

 

Mir ist klar, dass es viele gute Gründe gibt, dass ich im Sommer eigentlich etwas mehr Zeit für unseren Garten hätte verwenden sollen: den Rasen mähen, die Ligusterhecke schneiden, Erdbeeren ernten oder andere, ebenso wichtige und unaufschiebbare Arbeiten. Aber stattdessen habe ich all das nicht getan, sondern einen Autoreisezug gebucht, der mich und meine GS noch einmal nach Südfrankreich bringen soll. Die Assietta, so denke ich mir, ist zu dieser Jahreszeit bestimmt ein lohnendes Ziel - und unser Garten kann sicher warten. Meine Frau ist zwar nicht ganz meiner Meinung, aber meinen Hinweis, dass das Heckeschneiden hinterher garantiert viel einfacher von der Hand geht, kann sie nicht entkräften. Im Gegenteil, sie hat Verständnis für  mein Fernweh! Obwohl ich bereits nach ein paar Tagen zurück sein will, sagt sie mir, ich könne auch länger wegbleiben und mir mehr Zeit lassen. Wie schön, eine solche Partnerin zu haben!

So kommt es, dass ich an einem frühen Nachmittag am Terminal für die Autoreisezüge in Hildesheim ankomme. Der Weg dorthin ist für mich nicht weit – Hildesheim liegt nur eine gute Stunde von zu Hause entfernt. Ich bin etwas aufgeregt. Zum aller ersten mal werde ich mich und mein Motorrad den ganzen Weg in den Süden auf einem Zug transportieren lassen. Mal sehen, wie das wird!

Zwei weitere Biker kommen dann noch hinzu, und so sind wir schließlich zu dritt: Thomas kommt aus einem Dorf bei Göttingen und will mit seiner Kawasaki ZZR 1400 für zwei Wochen an die Côte d´Azur. Holger aus Braunschweig fährt eine alte Harley. An seinem Motorrad sind die meisten Teile nicht mehr original aus Amerika, sondern inzwischen von Louis, wie er selbst sagt. Sein Chopper sieht aber kernig aus, ein kleines bisschen wie „Born to be wild!“… Seine Kumpel sind bereits vorgefahren und irgendwo in den Pyrenäen, doch wo genau sie auf ihn warten, das weiß er nicht!

Das Verladen auf die untere Fahrspur der Autowaggons ist eigentlich eine schnelle und problemlose Angelegenheit: ich muss mich auf meiner GS zwar gewaltig auf den Tankrucksack quetschen, damit ich mit dem Helm nicht oben an einen der stählernen Querträger anstoße, aber sonst ist die Fahrt auf den Zug kein Problem. Nachdem die GS auf dem Seitenständer steht, werden vier Gurtbänder angelegt und gewissenhaft festgezurrt. Gleich neben meiner GS steht inzwischen die große Kawasaki, die Harley-Davidson parkt gleich hinter uns. Danach kommen auch schon die ersten Autos auf den Waggon. Ich überprüfe noch einmal den sicheren Stand meines Motorrades. Alles ist bestens. Ich schnappe meinen Tankrucksack mit den wichtigsten Dingen für die Nacht sowie meine Klamotten und den Helm. Dann geht es gemeinsam hinüber zum Bahnsteig, wo wir in den Liegewagen des eigentlichen Autoreisezug einsteigen sollen.

Auf dem Weg hinüber hoffe ich, dass wir gemeinsam in ein Abteil kommen können. Die Chemie stimmt, auch wenn unsere Bikes unterschiedlicher nicht sein können. Dann fährt der Autoreisezug aus Hamburg in den Hildesheimer Bahnhof ein und hält mit schrill quietschenden Bremsen an.

Beim Einsteigen und der Suche nach dem richtigen Platz verlieren wir uns zunächst etwas aus den Augen. Entsetzt stelle ich fest, dass ich eigentlich das fünfte Bett in einem Abteil, das bereits mit zwei älteren norwegischen Paaren belegt ist beziehen müsste, die auf dem Weg nach Spanien sind und das Abteil mit unglaublich viel Gepäck vollgestopft haben. Wirklich, ich mag Norwegen und seine freundlichen Menschen sehr, aber die abweisende und schroffe Art dieses älteren Herren in seiner kurzen, kleinkarierten Hose, dem buntem Hawaiihemd mit schräg gemusterter Krawatte, seinen knielangen und ebenfalls karierten Kniestrümpfen und den bequemen, grauen Ledersandalen aus Wörishofen lässt mich doch zurückschrecken…

Auch Thomas ist von seinen zahlreichen Mitreisenden zwei Abteile weiter wenig erbaut. Wir schauen uns eindringlich an – und suchen dann nach Holger. Der sitzt im nächsten Waggon – völlig alleine in einem Abteil für sich! Zufälligerweise kommt die Zugbegleiterin gerade den langen und schmalen Gang auf uns zu und lächelt uns schon von weitem freundlich zu. „Könnten wir vielleicht…?“ Mehr müssen wir nicht sagen. Sie nickt augenzwinkernd. Natürlich können wir zusammen in ein Abteil gehen.

Plötzlich geht ein kurzes Rucken durch den Zug. Jetzt sind auch die Fahrzeugwaggons an den Zug angekuppelt worden. Draußen ertönt ein Pfiff, dann geht es mit leichter Verspätung los in Richtung Avignon.

Noch sind die oberen Betten in unserem Abteil hochgeklappt. Wir machen es uns derweil auf den beiden unteren Bänken gemütlich. Die schweren Lederstiefel werden gegen Klettsandalen getauscht, und die restliche Garderobe wandert ins Gepäckfach hoch oben über der Abteiltür. Ich sitze gerade erst seit zwei Minuten, da holt Holger auch schon drei 0,5 Liter Dosen Bier aus seinem Tankrucksack und reicht mir eine davon zu. „Ne schöne Reise zusammen, und Prost!“ Ich bin überwältigt. Freundlicher kann eine Reise mit eigentlich wildfremden Leuten nicht beginnen. Aber Motorradfahrer sind eben doch immer etwas besonderes.

Ich glaube, es war in der Nähe von Kassel, als ein weiterer Biker zu uns ins Abteil kommt, nicht um ein weiteres Bett bei uns zu belegen, sondern nur, um sich ebenfalls an unserem angenehm lockeren Gespräch zu beteiligen. Holger zieht vier weitere Biere aus seinem Rucksack – es ist mir bis heute völlig unklar, wie dermaßen viele Dosen in eine Tanktasche hinein passen können – und der Nachmittag nimmt seinen weiteren Verlauf. Benzingespräche sind etwas herrliches, besonders wenn man ohnehin prallvoll mit Vorfreude auf eine neue Tour ist. Jeder von uns kann etwas Lustiges oder Interessantes zum Besten geben. Die Stimmung ist wirklich hervorragend.

Es muss wohl bei Bad Hersfeld gewesen sein, als ich in Richtung Speisewagen losziehe, um selbstverständlich auch meinen Anteil an den gemeinschaftlichen Kaltgetränken zu besorgen. Ich versuche mir einzureden, dass nicht ich sondern selbstverständlich der fahrende Zug Schuld daran hat, als ich (mit vier Flaschen Bier, davon zwei in jeder Hand!) vom Speisewagen zurück in unser Abteil recht auffällig hin- und hergewackelt bin. Zum Glück begegnet mir unterwegs niemand auf dem schmalen Gang…

Auf unserer Weiterfahrt in Richtung Frankfurt steigt auch Thomas noch aktiv in den Getränkehandel ein, und es wird höchste Zeit, an das Abendessen zu denken, damit der Magen eine solide Grundlage für unser Gelage bekommt. Wir drei in Hildesheim zugestiegenen Motorradfahrer legen unsere mitgebrachten Wurst- und Käsebrote, die sauren Gurken und Tomatenstücke dann auch wie selbstverständlich auf den Klapptisch. Gemeinsam wird unser Abendessen gesellig verzehrt.

Während des Essens sind die Flaschen irgendwann schon wieder leer, doch unser vierter Mann zeigt überhaupt kein Interesse, die eigentlich klare Reihenfolge in der Logistik fortzusetzen. Erst als auch durch seinen emsigen Einsatz schließlich die letzten Happen verschwunden sind, verabschiedet er sich kurzerhand und verschwindet ohne ein weiteres Wort! Wir haben diesen Herren tatsächlich nicht wieder gesehen!

Am nächsten Morgen kommt unsere Zugbegleiterin gegen 6 Uhr  freundlich grüßend zu uns ins Abteil und verteilt die Frühstückskartons: Croissant und Brötchen, Marmelade und natürlich einen Pappbecher mit Kaffee. Beim Blick aus dem Fenster huschen draußen hochgewachsene Zypressen und knorrige Edelkastanienbäume vorbei. Während ich mein Frühstück fast beendet habe, läuft der Zug durch den Bahnhof von Pierrelatte. In einer guten halben Stunde sind wir schon da.

Die Zugbegleiterin kommt vorbei und will die Frühstückssachen abräumen. Holger, immer noch in T-Shirt und Unterhose schäkert ein wenig mit ihr herum und fragt nach einem weiteren Kaffee. Obwohl nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, bekommen wir alle drei tatsächlich noch einen zweiten Becher – und den können wir nach der letzten Nacht wirklich gut gebrauchen. Wir erfahren noch, dass wir vom Bahnhof zuerst mit einem Bus zum Autozugterminal gebracht werden, der etwas abseits vom eigentlichen Bahnhof liegt. Dort gäbe es auch ausreichend Toiletten und Waschmöglichkeiten für uns. „Der Bus wartet auf euch vor dem Bahnhof. Viel Spaß bei eurer Tour!“ Das ist doch wohl ausgesprochen nett!

Auf die Minute pünktlich kommen wir in Avignon an. Das ist bei der langen Entfernung und unter Berücksichtigung gewisser fahrplanmäßiger Eigenarten der Bahn nicht immer selbstverständlich. Schnell ist unser kleines Gepäck zusammen und wir verlassen den Zug. Die norwegischen Mitreisenden bleiben im Zug, um mit ihm weiter nach Narbonne zu fahren.

Der Bustransfer klappt dann auch problemlos. Noch ist auf den Straßen Avignons nicht viel los – es ist immer noch früher Morgen, als wir am Autoterminal ankommen. Unsere Waggons sind aber noch nicht angekommen. Es bleibt also tatsächlich genügend Zeit zum Waschen und Rasieren. Hinterher sitzen wir zu dritt noch ein paar Minuten in der Morgensonne und beobachten ganz in Ruhe, wie unsere Motorräder schließlich auf dem Zug herankommen: sie stehen ganz vorne auf dem ersten Waggon, und so wie es von weitem aussieht, ist ihnen die Fahrt auch gut bekommen. Bienvenue en France!

Der Abschied von meinen beiden Mitreisenden erfolg dann etwas überstürzt. Jeder von uns will natürlich jetzt schnell los. Holger hat inzwischen bei seinen Freunden in den Pyrenäen angerufen und weiß nun, wohin er zu fahren hat. Thomas sagt, er werde gleich auf die Autobahn fahren, um möglichst schnell weiter nach Süden zu kommen. Also adieu, ihr beiden, und gute Fahrt!

Ich selbst will nach Nordosten in die Berge und folge zunächst den Schildern nach Carpentras. Zuerst kommen langweilige Vorortstraßen durch die Außenbezirke von Avignon. Erst in Malaucène mit seiner Platanen gesäumten Ortsdurchfahrt am Fuße des Mont Ventoux beginnt für mich das südfranzösische Vergnügen! Allerdings habe ich immer noch nicht ganz realisiert, dass ich wirklich so weit entfernt von zu Hause bin. Die Zugreise während der Nacht verging im wahrsten Sinne wie im Schlaf. Hätte ich die Strecke mit dem Motorrad zurück gelegt, dann stünden nun über 1200 Kilometer mehr auf dem Tacho und ich hätte 12 Stunden pausenlos auf Autobahnen fahren müssen.

Ich komme in Vaison-la-Romaine an, und es ist gerade mal 10:30 Uhr. Im Supermarché besorge ich etwas Käse, Wurst, ein paar Tomaten und ein ofenfrisches Baguette für die nächste Pause. Bon jour! Die Fahrt mit dem Motorradreisezug für mich eine neue und wirklich tolle Erfahrung – ich fühle mich fast so wie bei einem Flug über verschiedene Zeitzonen: über Nacht und ohne jegliche Anstrengung bin ich bereits dort angekommen, wohin ich sonst zwei heftige Tagesetappen hätte einplanen  müssen.

Hinter Gap kommt der riesige, über 20 Kilometer lange Stausee Lac de Serre-Ponçon, in dem seit Anfang der sechziger Jahre das Wasser der Durance zur Stromerzeugung gestaut wird. Gleich hinter dem Stausee biege ich von der breiten Route Nationale ab. Nun wird es wesentlich interessanter: wie könnte ich auch durch diese Gegend fahren, ohne ein weiteres mal meinen Lieblingspass zu überqueren – diesmal aber von Nord nach Süd: den Col de Parpaillon. Erst im vergangenen Jahr war ich mit Martinas TransAlp oben gewesen. Nun bin ich gespannt, wie sich meine neue 1150 GS auf dem ungeteerten Alpenschotter macht. Zunächst geht es oberhalb von Embrun auf einspuriger aber noch geteerter und sehr unübersichtlicher Straße kurvenreich hinauf. Vor einem Bauernhof spielen drei kleine Kinder auf dem Weg. „Bon jour, Monsieur!“ rufen sie mir winkend zu. Ihre ehrliche Freundlichkeit lässt mich breit grinsen. Mit einem „Salut!“ und der zum Gruß erhobenen Hand fahre ich langsam vorbei.

 

Der weitere Verlauf der kleinen Straße ist mir bekannt: bald hört der Teer und dann der Baumbewuchs auf. An einer Alm mit ein paar verlassenen Holzgebäuden kommt mir eine orangefarbene KTM entgegen. Wir grüßen uns kurz im Vorbeifahren. Danach muss ich anhalten und ein Viehgatter öffnen. Damit die Sperre für das Weidevieh nicht gleich wieder zufällt, muss ich einen dicken Stein davor legen. Immer weiter hinauf schraubt sich die Piste. Auch die kleine Furt in der Kehre ist auch noch da – aber diesmal ist mein Motorrad noch sauber, und die Bachdurchfahrt ändert nichts am Aussehen meines Motorrades. Jetzt kommen nur zwei, drei weitere Serpentinen mit jeweils langen Geraden dazwischen, und dann bin ich erneut am Nordportal des Scheiteltunnels angekommen. Wieder ist das Tor geöffnet, und ein Blick in die dunkle und schmale Tunnelröhre bestätigt, dass im Augenblick kein Gegenverkehr die Durchfahrt blockiert. Also los!

 

Nicht hat sich verändert: immer noch tropft es ständig von der Tunneldecke auf die Fahrbahn herab, immer noch ist der Boden mit feinem, teils schmierigem Schlamm bedeckt, und immer noch ist die Wasserpfütze am Südportal des Tunnels besonders tief und unberechenbar! Aber genau wie im vergangenen Jahr ist nichts vereist – die GS fährt zwar schlammbeschmiert aber sonst unbeschadet wieder ins helle Tageslicht. Draußen vor dem Portal warten bereits drei Jeeps, alle mit Münchner Nummernschildern. Ein kurzes, grüßendes Nicken – mir ist nicht nach einem weiteren Stop und smalltalk – schon fahre ich wieder bergab. Die Serpentinen lassen sich herrlich fahren. Bis hinab zur Baumgrenze kommt mir nicht ein einiges Fahrzeug entgegen. Der Parpaillon gehört mir ganz alleine. Ich fühle mich sauwohl!

 

Hinter Guillestre kommt an diesem Nachmittag im Département Hautes-Alpes noch der Col d´Izoard, und mit seinen 2360 Höhenmetern ist es tatsächlich ein hoher Alpenpass. Am frühen Abend bin ich wieder auf dem Campingplatz im Südwesten von Briançon angekommen. Hier hatten wir uns im vergangenen Jahr von unseren Reisegefährten getrennt, die im Gegensatz zu uns noch genügend Zeit hatten, um über die Assiettastraße zu fahren. Damals war ich etwas neidisch darauf.

Am Abend meines ersten Reisetages schnappe ich mir nach dem warmen Abendessen noch einmal die genaue Michelinkarte und schaue mir die kommende Zufahrt zur Assietta an: ich werde morgen früh nicht mehr weit zu fahren haben….

Am frühen Morgen hatte es leider etwas geregnet. Nicht viel, aber das Zelt ist doch immer noch etwas feucht. Auch die Straßen in Briançon sind noch dunkelglänzend. Bei der kurvenreichen Ortsdurchfahrt muss ich daher etwas aufpassen. Danach geht es auf dem eher langweiligen Col den Montgenèvre hinüber ins benachbarte Italien. Inzwischen ist hier der Fahrbahnbelag wieder völlig trocken, obwohl sich die Sonne doch noch etwas ziert. Bald bin ich im berühmten Skiort Sestrière angekommen – in Italien wohlgemerkt, aber in dieser Ecke des Landes tragen viele Ortschaften französisch klingende Namen.

Zunächst kann ich den Beginn der eigentlich berühmten Assietta-Kammstraße einfach nicht finden und fahre an dem unauffälligen, handgeschriebenen Hinweisschild nichts ahnend vorbei. Nach ein paar hundert Metern wird mir jedoch klar, dass ich wenden muss – um mich herum stehen zahlreiche bis zu 5 Etagen hohe, aber derzeit leerstehende „Bettenburgen“. Die Skisaison hat noch lange nicht begonnen. Im Sommer sind die hiesigen Skizentren einfach furchtbar anzusehen. Hier zwischen den Bettenburgen kann die Assietta einfach nicht anfangen!

Ich wende die GS. Bei der Rückfahrt fällt mir dann ein völlig nichtssagender, schmaler Schotterweg mit dem kleinen Holz-Wegweiser „Assietta“ doch auf. Allerdings geht es zunächst leicht abwärts durch ein kleines Gehölz. Rechts an einem kleinen Abhang hat jemand illegal Müll entsorgt. Soll das hier wirklich die berühmte Assietta sein, die in einem Atemzug gemeinsam mit dem Ligurischen Grenzkamm genannt wird?

Nachdem die Bäume aufhören, ändert sich die Piste aber komplett: offensichtlich hatte es hier in der letzten Nacht nicht geregnet, denn während ich nun bergauf fahre, lasse ich hinter mir eine gewaltige Staubfahne zurück, obwohl ich nicht besonders schnell fahren kann! Serpentine folgt auf Serpentine. Ich hole bald einen Geländewagen ein, der freundlicherweise rechts anhält und mich passieren lässt. Zum Glück bei dem vielen Staub! Je höher ich komme, um so größer wird die Rundumsicht. Und doch ist dieser Anstieg alles andere als schön. Die Piste hinauf auf den ersten Pass, den Colle Basset, führt direkt unterhalb eines Skiliftes hinauf, die touristischen Auswirkungen vom berühmten Wintersportort Sestrière wollen einfach nicht enden…

Oben auf dem Colle Basset bin ich weiterhin enttäuscht – oder besser gesagt beschähmt: vor mir liegt eine zwar ausgedehnte Hochgebirgslandschaft mit gigantischer Fernsicht vom Mont Chaberton über den Mont Jafferau bis hin zum Massif du Mont Cenis, aber direkt vor und unter mir haben Endurofahrer die empfindliche Hochgebirgsvegetation an so vielen Stellen mutwillig zerstört, das die Senke vor mir eher einem Cross-Übungspark im Kieswerk ähnelt. Muss das sein? Zu allem Überfluss jagen gerade drei italienische Cross-Einzylinder laut bellend an mir vorbei und fegen die staubige Piste entlang. Auch ich bin hier ebenfalls mit einem Motorrad unterwegs, werde aber selbstverständlich auf dem Weg bleiben und keine offroad-Spielchen betreiben. Ich bin mir absolut sicher, dass der Tag, an dem es zu drastischen Streckensperrungen kommen wird, nicht mehr weit entfernt ist.

Der Staub hat sich inzwischen gelegt. Ich fahre den Crossern langsam und gemütlich hinterher. Ich kann inzwischen den gesamten schmalen aber auch langen Kamm der Assietta bis weit nach Osten überblicken. Ohne erwähnenswerte Steigungen kommt bald der Colle Bourget und damit der zweite Pass der AKS, wie die Assietta-Kammstraße auch genannt wird. Inzwischen bin ich an mehreren Verkehrsschildern vorbei gekommen, die die Höchstgeschwindigkeit während der gesamten Länge auf 15 km/h festlegen. Links und rechts der Straße sind inzwischen alle Nebenwege, die die Übermütigen ehemals zu Abstechern ins Gelände eingeladen hatten mit Baumstamm-Barrieren versperrt. Aha, der Tag ist also schon längst gekommen!

Während der Anfahrt zum Colle Blegier entdecke ich knapp 100 Meter unterhalb der Straße eine große Schafherde. Ich halte an. Eigentlich soll es nur ein rasches Erinnerungsfoto werden, aber ich bleibe länger als geplant. Der Schafshirte ist, wie mir auffällt, alleine mit zwei Hunden unterwegs. Seine beiden Hütehunde begeistern mich. Völlig selbständig halten sie die Herde durch ihren ständigen Einsatz zusammen und treiben die Schafe gleichzeitig langsam zu mir auf die Straße hinauf. Schon bald stehen die BMW und ich mitten in der Herde. Viel Geblöke, Gebimmel und Gedrängel, aber ein paar Schritte Sicherheitsabstand wird doch respektvoll eingehalten. Schließlich kommt auch der Hirte auf mich zu und grüßt. Er spricht italienisch, und wie sich bald herausstellt ebenso gut französisch. Ich versuche mit meinen Sprachkenntnissen eine kleine Unerhaltung. Er ist mit seinen Tieren den ganzen Sommer hier oben, aber bald geht es wieder hinab ins Tal. Und überhaupt die Motorräder: manche bringen die ganze Herde durcheinander! Immer nur fahren, fahren, fahren. Und dann die lauten Motoren! Nur ganz wenige halten bei ihm an und lassen sich auch mal Zeit zu einem Schwätzchen. Meist ist er allein. Die Weidezeit auf der Hochalm ist aber jetzt so gut wie vorbei. In zwei, drei Wochen rechnet er mit dem ersten Schnee.

Solange wir uns unterhalten bleiben die Hunde in unserer Nähe und lassen die Schafe gewähren. Aber kaum haben wir uns noch einmal grüßend verabschiedet, da springen die Hunde wieder los und bringen Bewegung in die Herde – ganz ohne Befehl des Hirten. Die beiden sind wirklich toll!

Hinter dem Colle di Lauson kommt die schwierigste Stelle der ganzen Kammstraße. Der Schotter ist inzwischen gröber und lockerer geworden. Ich muss mehrere enge Kurven dicht hintereinander bei steilem Gefälle hinab fahren. Das ist nicht so ganz einfach – mir fehlt die Routine mit dem neuen Motorrad, dass deutlich schwerer ist als meine bisherigen Maschinen. Klar habe ich auch Bedenken, ich könnte mit der neuen 1150er stürzen. Bloß das nicht, schießt es mir durch den Kopf!

Danach ist es aber auch schon geschafft. Auf dem Colle dell` Assietta kommt eine weitere Pause, und ich gehe zur Testa dell´ Assietta hinauf, einem kleinen Aussichtshügel mit großartige Aussicht. Hier oben auf dem höchsten Punkt steht mal wieder ein Denkmal und erinnert in fast 2600m Höhe an einen ehemaligen Krieg zwischen Österreich und Frankreich.

 

Danach geht es allmählich wieder in zahlreichen langgezogenen Kurven auf der Südseite des Bergkammes hinab. Ein paar Wanderer kommen mir entgegen. Das war es auch schon. Ansonsten bin ich heute scheinbar alleine unterwegs. Kurz später endet der Schotter der Assietta. Das war es. Ab hier geht es auf nagelneuem Teerbelag zum Colle delle Finestre hinauf. Aber den griffigen Straßenbelag kann ich nicht uneingeschränkt nutzen. Neben der Straße gibt es keine Weidezäune, und die zahlreichen Milchkühe, die sich links und rechts die saftigen Alpenkräuter schmecken lassen, haben die Verdauungsprodukte ihrer Mahlzeiten dermaßen zahlreich auf dem Teer hinterlassen, dass man unumwunden von einer wirklich „beschissenen Straße“ sprechen kann! Alle paar Meter liegt ein weiterer saftiger Haufen und zwingt mich zu meinem ersten Bergauf-Slalom!

Oben auf der Passhöhe endet der Teerbelag ganz plötzlich. Links und rechts am Straßenrand stehen viele PKW. Offensichtlich beginnen hier oben interessante Wanderwege. Eine Gruppe zieht gerade mit Rucksäcken und Stöcken los. Ich fahre ohne anzuhalten gleich weiter, und das was mich jetzt als Abfahrt erwartet, habe ich zuvor noch nicht erlebt. In sage und schreibe 65 Kehren wickelt sich die Nordrampe des Colle delle Finestre hinab nach Susa und überwindet dabei mehr als 1600 Höhenmeter. Etwa auf halber Höhe komme ich wieder auf Teerbelag. Schlag auf Schlag folgt nun eine 180° Kehre der nächsten. Nur durch das Gefälle ist mir klar, wohin die Reise geht. Sonst hätte ich wegen des ständigen Hin und Her schon längst die Orientierung verloren.

Am Ende der Finestre-Straße sehe ich auch die drei italienischen Geländefahrer wieder. Sie stehen mit ihren Maschinen am rechten Straßenrand und orientieren sich gemeinsam auf einer Landkarte. Schwupps bin ich vorbei – bon giorno, meine Herren! Ganz so langsam bin ich wohl mit meiner GS auch nicht!

In Susa folgt zunächst eine kleine Mittagspause. Es ist inzwischen 14 Uhr und das ist genau die richtige Zeit für einen heißen und süßen Espresso in einem kleinen Straßencafé entlang der engen Ortsdurchfahrt dieser wirklich typisch italienischen Stadt. Die Sonne zeigt sich immer noch von ihrer besten Seite und wärmt mich auch von außen her tüchtig auf – der Espresso übernimmt die Aufgabe von innen! Die GS steht direkt neben dem runden Alutisch des Cafés. Von meinem Stuhl aus kann ich die Karte fast ohne aufzustehen aus dem Tankrucksack angeln. Obwohl ich heute schon seit fünf Stunden unterwegs bin, habe ich „entfernungsmäßig“ noch nicht viel geschafft. Für die Assietta braucht man eben Zeit!

Ab hier aber muss und will ich wieder zügiger vorankommen. Allerdings möchte ich nicht noch einmal quer durch die Schweiz hinüber nach Deutschland fahren. Eine andere, noch unbekannte Strecke wäre viel interessanter. Ich ziehe eine andere Karte heraus, die mir mehr Übersicht über den westlichen Alpenraum bietet. Nach einem weiteren Espresso steht fest, dass ich die grobe Richtung zum französischen Jura halten will. Die Landschaft mit ihren wilden und steilen Tälern soll sehenswert sein.  Mal sehen, ob das heute noch klappt.

Ich zahle rasch meine beiden Kaffee – „Il conto per favore!“ –  und schon geht es flott hinauf auf den Col du Mont Cenis und hinterher ein weiteres mal über den Col de l´Iseran in Val d´Isère. In Bourg-St.Maurice tanke ich wie im vergangenen Jahr vor dem großen Supermarkt. Allerdings kann ich heute den Brathähnchenwagen nicht entdecken. Auch das Wetter ist anders: ich habe kein Gewitter zu befürchten. Bei strahlendem Sonnenschein fahre ich die kleine Straße zum Cormet de Roselend hinauf, einem bildschönen Alpenpass, der trotz seiner scheinbar geringen Höhe von etwas unter 2000 Metern doch soviel alpine Herausforderung birgt, dass in den vergangenen Jahren die Tour de France hier regelmäßig entlang ging.

Mein letzter Alpenpass in diesem Jahr wird der Col de Forclaz kurz vor Ugine. Eine schmale, einspurige Straße windet sich über einen bewaldeten Bergkamm – die Alpen sind hier längst nicht mehr so majestätisch wie noch vor zwei Stunden im mondänen Val d´Isère. Und spätestens bei Annecy ist die Welt der Berge mit anspruchsvollen Motorradstrecken endgültig vorbei. Der Feierabendverkehr zwingt mich aber auch hier zu großer Aufmerksamkeit. An den langen Schlangen vor den roten Ampeln halte ich aber wie die einheimischen Zweiradfahrer: Blinker links und am Stau vorfahren bis zur Kreuzung. Und schwupps sind wir bei Ampelgrün wieder ganz vorne…

In St. Claude kaufe ich kurz vor 19 Uhr noch rasch etwas für das Abendessen ein. Die Zeit drängt inzwischen. Ich muss mich sputen, um den Camping Municipal im kleinen und abgelegenen Baume-les-Messieurs nördlich von Lons-le-Saunier noch vor dem Dunkelwerden zu erreichen. Die Lebensmittel packe ich wie immer ins Topcase. Das Baguette wird in seiner langen Papiertüte einfach oben unter die Spanngurte geschoben. Passt schon!

Dann geht es weiter quer durch den Parc Naturel Régional du Haut-Jura. Mächtige und ausgedehnte Buchenwälder lieben den kalkhaltigen Boden der Region. Auf den kurvenreichen Straßen ist jetzt nichts los. Frankreich macht Feierabend. Als ich schließlich wieder eine der breiteren Nationalstraßen erreicht habe, geht es etwas flotter als bisher voran. Vermutlich war ich dann deutlich schneller als die erlaubten 90km/h unterwegs und bin so durch eine Radarfalle gefahren. Der Lichtblitz des Fotoapparates in der unauffälligen, grauen Box neben der Fahrbahn schreckt mich auf. Allerdings kommt das plötzliche Fotoshooting für mich, wie heißt es doch so schön, „erkennungsdienstlich unbedenklich“, von vorn. Mein genüssliches Lächeln endet jedoch abrupt, denn genau in diesem Moment kommen mir zwei französische Motorradpolizisten auf ihren blau-weißen Gendarmerie-BMW entgegen. Auweia!

Ich grüße sie als höflicher Mensch selbstverständlich so nett und zuvorkommend wie ich nur kann. Vermutlich haben sie den Lichtblitz überhaupt nicht bemerkt, oder aber sie meinen es gut mit mir. Auf alle Fälle setzen sie ihre gemeinsame Patrouillenfahrt nach einem ebenso freundlichen Handgruß unbeirrt fort.

Gleich hinter Lons-le-Saunier habe ich mein Tagesziel fast erreicht. Noch einmal geht es auf einer breiten Route Nationale in fast ebener Landschaft voran. Wohl habe ich die Bergstraßen der Alpen inzwischen längst hinter mir gelassen. Aber unmittelbar vor dem Sonnenuntergang wird es auf einer einspurigen Bergstraße, wobei es für mich hier eigentlich Talstraße heißen müsste, noch einmal kurvig und steil: die Fahrt von der Hochebene hinab in den Talkessel von Baume, oder wie man hier sagt in den Cirque de Baume hat es in sich und wird sogar noch einmal gefährlich. Unten im Talgrund sehe ich bereits das kleine, nur 200 Einwohner zählenden Baume-les-Messieurs. Die letzten Tageskilometer haben begonnen.

Plötzlich wird es verdammt eng und ich muss scharf bremsen. Die Gefahr der Straße hat wohl der Fahrer des nagelneuen, schwarzen 3er-BMW unterschätzt. Vor mir hat es einen Unfall mit schlimmem Sachschaden gegeben. Der Unfallwagen steht mit zerstörter Front- und Heckpartie quer auf der einspurigen Straße. In vielen engen Kurven geht es unübersichtlich aber spektakulär an einem über 100 Meter senkrechten Steilabhang von der Hochebene ins Tal hinab. Vermutlich ist das Auto einem der sehr scharfkantigen Felsvorsprünge seitlich neben der Fahrbahn zu nah gekommen. Genauso steil wie die Felswand links hinter der Schutzmauer abbricht, genauso steil geht es rechts direkt neben der Fahrbahn wieder in die Höhe. Jetzt blockiert der Unfallwagen die Straße komplett. Inzwischen warten zwei weitere PKW vor mir geduldig auf eine Lösung des Problems. Eine Ausweich- oder Wendemöglichkeit gibt es nicht. Die Straße ist einfach viel zu schmal. Die Autos müssten im Rückwärtsgang ein, zwei Kilometer zurücksetzen, bis sich eine Wendemöglichkeit ergibt. Rien ne vas plus.

Der Fahrer des Unfall-BMW winkt und gibt mir plötzlich ein Handzeichen. Ich soll doch ruhig versuchen, mit meinem Motorrad zwischen seinem Auto und der steinernen Randmauer, die ihn gewiss vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt hat, vorbei zu kommen. Ich starte meinen Boxer und fahre langsam vor. Tatsächlich bleibt mir nicht viel Platz. Gerade eben so passt meine 1150 GS mit ihren Seitenkoffern vorbei. Zum Glück für mich liegen die vielen kleinen Glassplitter der zerstörten Scheinwerfer auf der anderen Hälfte der Straße. Ganz langsam und immer wieder vorsichtig abbremsend manövriere ich mein Motorrad vorbei.

„Merci beaucoup, Monsieur!“ rufe ich dem Pechfahrer zu – welche Höflichkeit, mich trotz seines Unfalles vorbei zu winken! Auf meine Frage, ob er schon einen Pannenwagen angerufen hätte, nickt er mir nur kurz zu, dann dreht er sich frustriert wieder um.

Zutiefst bedrückt, so kurz vor dem Ziel noch direkt an einem Unfall vorbei zu kommen, fahre ich weiter ins Tal hinab. Keine zwei Minuten später bin ich an meinem Ziel angekommen. Baume-les-Messieurs ist angeblich eines der schönsten Dörfer Frankreichs. Aber für eine Besichtigung fehlt mir heute Abend die Zeit. Es wird bereits dunkel, und ich muss machen, das ich überhaupt noch im letzten Tageslicht mein Zelt aufbauen kann.

Durchaus nachdenklich endet der zweite Tag meiner französischen Tour auf dem Camping Municipal im Cirque de Baume. Meine Stimmung wird erst allmählich nach meinem späten Abendessen besser: zunächst etwas Leberpastete Pâté de Foie, danach würziger Schnittkäse Bleu du Haut-Jura mit einigen Radieschen. Das frische Baguette vom letzten Einkauf schaffe ich dazu heute Abend nicht ganz, den Rest wird es morgen zum Frühstück geben. Bei der Flasche Rotwein sieht das anders aus…

Am nächsten Morgen ist mein kleines Lager schnell abgebaut. Immer noch scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel, allerdings war die Nacht im Zelt bereits recht frisch. Trocken kann ich mein Zelt nicht einpacken, an der Innenwand hat sich reichlich Feuchtigkeit gebildet. Also kommt das Zelt nicht mit in den Packsack sondern wird ganz oben festgeschnallt. Später wird sich unterwegs sicher eine Pause zum nachträglichen Trocknen  ergeben.

Als erster verlasse ich heute früh den Campingplatz. Erst jetzt im Tageslicht erkenne ich die wahre Lage des Dorfes: das beeindruckende Tal um mich herum ist nicht breit. Nur zwei-, dreihundert Meter trennen die linke von der rechten Felswand, die senkrecht, teils sogar überhängend steil empor ragen. Ein wirkliches Eldorado für Sportkletterer. Bei meiner kleinen Erkundungsfahrt durch das Dorf teilt sich das Tal vor mir: wie ein richtiges Ypsilon müsste das alles aus der Vogelperspektive aussehen. Im linken Teil des Tals soll die Quelle der Seille liegen, aber dorthin führt nur ein schmaler Feldweg, und für einen Spaziergang fehlt mir die Zeit. Die Flussquelle hingegen muss recht ergiebig sein, denn die Seille schlängelt sich im weiteren Verlauf des Tales bereits recht ansehnlich auch an dem Campingplatz vorbei.

Ich folge der eigentlichen Straße, die in den rechten Teil des Tales hinein führt. Bereits nach zwei Kilometern kommt ein Hinweisschild und kündigt eine Sackgasse an. Unmittelbar danach empfängt mich eine senkrechte Felswand. Hier kann es wirklich nicht weiter gehen. Am Ende der Straße befindet sich nun ein kleiner Parkplatz mit einem Ausflugslokal. Ein weiteres buntes Hinweisschild weist den Fußweg zu einer Tropfsteinhöhle. Noch ist hier auf dem Parkplatz nichts los. Es ist noch viel zu früh. Also fahre ich zur Gabelung des Tals zurück. Ziemlich genau in der Mitte des gedachten Ypsilons liegt der Kern des bildschönen und typisch französischen Dorfes Baume-les-Messieurs. Im Zentrum der Siedlung befindet sich die ehemalige Benediktinerabtei Sainte-Pierre, die bereits 909 gegründet wurde. Immer noch ehrwürdig und bestens erhalten stehen die Gebäude der Klosteranlage hier im Talgrund. Mönche gibt es nicht mehr. Das Kloster ist seither ein Museum.

Mit der Ehrwürdigkeit war es im Verlauf der langen Klostergeschichte nicht immer bestens bestellt. Die abgelegene Lage des Klosters bot gewisse Möglichkeiten für eine Neuorientierung der Benediktiner-Brüder. Aus den tugendhaften Mönchen der Abtei wurden zum Ende des Mittelalters nämlich recht heitere Herren, die ein lockeres Leben mit ebenfalls an irdischer Zerstreuung interessierten Nonnen aus nachbarschaftlichen Klöstern pflegten. Das ging eine ganze Weile gut. Irgendwann aber, mon dieu, flog der unzüchtige Zauber auf, und ein resoluter Bischof erteilte den flotten Jungs im Kloster ein paar energische Nachhilfestunden in Sachen Zölibat. Garantiert mussten sie die Benediktinerregeln „regula benedicti“ nicht nur einmal in Schönschrift abschreiben, und die Zentrale Dienstvorschrift für Benediktinermönche einwandfrei auswendig lernen: „ora et labora!“ – bete und arbeite! Es muss damals wohl einen Riesenkrach gegeben haben, denn anschließend war wieder Ruhe im Tal. Endgültig!

Der Orden hat das Benediktinerkloster jedoch inzwischen längst aufgegeben. Die Ruhe im Cirque de Baume ist aber geblieben. Die Dächer der aus grauen Naturkalksteinen gebauten Häuser im Dorf sind typisch für die Region allesamt mit roten Tonziegeln gedeckt. Vor den Fenstern der Häuser hängen Blumenkästen. Die bunten Blumen darin leuchten in der Morgensonne. Hölzerne und überdachte Außentreppen führen an einigen der historischen Wohnhäuser in den ersten Stock. Alles hier macht einen gepflegten Eindruck. Irgendwo kräht ein Hahn und die Turmglocke der Abteikirche läutet acht mal. Es würde mich jetzt nicht im Geringsten überraschen, wenn plötzlich d ´Artagnan und seine drei Freunde Aramis, Athos und Porthos vorbei kämen und ihre schnaubenden Pferde vor der Wirtshausschänke zu einer kleinen Pause nach anstrengendem Ritt anbinden würden. Einer für alle – alle für einen! Die Filmkulisse wäre perfekt.

Apropos Wirtshaus: vor der Kirche gibt es tatsächlich einen kleinen Platz mit einem alten Steinbrunnen. Dort steht meine 1150 GS unmittelbar neben den Tischen des kleinen Dorflokals. Erst vor wenigen Minuten hat die aufgehende Sonne die Sitzgruppe hier unten im Tal ins warme Licht getaucht. Die Stühle des Lokals sind vom Tau noch feucht. Mit meinen Motorradsachen muss ich darauf jedoch keine Rücksicht nehmen. Ein großer Café au lait in einem typisch französischen „bol“, der traditionellen, henkellosen Trinkschale, und zwei herrlich duftende, immer noch warme Croissants sind heute mein Frühstück. Was  braucht man mehr?

Wieder kräht der Hahn aus dem benachbarten Garten. Ein älterer Herr schlurft in Hausschuhen an meinem Tisch vorbei, betrachtet mein Motorrad und nickt anerkennend. „La Moto, c´est très belle!“ Mein Mund ist gerade proppenvoll, und außerdem halte ich das angebissene Croissant noch in der Hand. Dennoch versuche ich, ihm dankbar zuzulächeln. „Merci! Merci, Monsieur!“ nuschele ich kräftig schluckend zurück und kann mir dabei keinen angenehmeren Ort für ein typisch französisches Frühstück vorstellen.

Irgendwann jedoch muss ich das beschauliche Baume-les-Messieurs im Cirque de Baume in der Franche-Comté verlassen und meine Heimfahrt beginnen. Heute Abend will ich eigentlich schon wieder zu Hause sein. In der Morgensonne fällt mir der Abschied jedoch nicht leicht!

Kurz vor Voiteur haben die steilen Felswände des typischen Juratales von Baume-les-Messieurs bereits längst aufgehört. Inzwischen ziehen sich überall ausgedehnte Weinberge die weiten Hänge empor. Dann bin ich auch schon auf der N83 in Richtung Norden nach Besançon unterwegs. Ab dort führt die Straße angenehm kurvig an der Doubs entlang, jenem Fluss der mit seinen zahlreichen Zuläufen für die vielen, teils spektakulären Erosionsformen der Juralandschaft zuständig ist. Es müssen nicht immer die hohen Alpenpässe sein, die das Herz eines Motorradfahrers erfreuen können.

Am Mittag bin ich schon im Elsass angekommen, und die Ortsnamen deuten die sprachliche Vergangenheit der Region zum nahen Deutschland an. Vor Colmar mache ich an einem Parkplatz direkt neben der Straße inmitten von Weinfeldern eine Pause. Ich packe mein Zelt noch einmal aus, um es hier zum Trocknen auszubreiten. Die Rebstöcke wachsen in knapp zwei Meter Höhe an einem Drahtgestell entlang, und zwischen zwei Weinpflanzen ist jeweils Platz für das Zelt, das Überzelt und die Unterlegplane. Auf die Trauben, die hier zahlreich an den Rebstöcken hängen, nehme ich Rücksicht. Bei einer kleinen Geschmacksprobe stelle ich zwar fest, dass die Weintrauben hier sehr süß sind, aber sie enthalten auch sehr viele Kerne. Das ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Ein kräftiger und warmer Südwind weht. Bereits nach einer Viertelstunde ist mein Zelt endgültig trocken und kann endgültig im wasserdichten Packsack verstaut werden.

Später geht es für kurze Zeit auf der Autobahn an Strasbourg vorbei. Die Zeit drängt etwas, und daher kommt mir die schnelle Ortsumgehung recht! Erst in Lauterbourg, also wirklich ganz in der nordöstlichen Ecke des Elsass, verlasse ich Frankreich endgültig, so als könne ich gar nicht genug davon bekommen. A bientôt, ma chère France!

Spät am Abend bin ich wieder bei meiner Familie. Drei lange Tage hatte ich Zeit für mich allein. Diese drei Tage waren wirklich intensiv! Täglich von früh bis spät unterwegs, einparken auf dem Autoreisezug, Tunnelschlamm am Parpaillon, Schotterkurven auf der Assietta und Morgensonne im Cirque de Baume. Die GS war stets eine zuverlässige Begleiterin und setzt damit die Tradition meiner bisherigen Motorräder nahtlos fort. Erschöpft aber absolut glücklich bin ich wieder daheim.

Und, waren die 1800 Kilometer in nur drei Tagen all die Mühen wert? Was für eine Frage?! Bien sûr!

 

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