Ligurien 2008 Flagge Italien

 

Schon Monate vorher ist völlig klar: am Pfingstwochenende muss etwas ganz Außergewöhnliches passieren. Sowohl zwei Tage vor als auch einen Tag nach diesem Wochenende muss ich nicht zur Arbeit. Das macht 6 ganze Tage. Ein Mini-Urlaub im Juni kündigt sich an, und es schreit förmlich nach einem Ausritt! Meine ebenfalls motorradfahrenden Freunde aus unserem Dorf haben sich diesen Termin auch freigehalten, und weil ich immer noch voll des Lobes für Autoreisezüge bin, haben wir bereits lange vor dem Saisonstart ein Superschnäppchen im Internet gebucht. Unsere ausgedruckten Tickets für die Rückfahrt von Alessándria im nordwestlichen Italien nach Deutschland halten wir bereits in unseren Händen. Wir müssen uns also nur noch Gedanken für die eigentliche Routenplanung in den Süden machen. 

Wir, das sind neben mir diesmal meine Freunde Klaus mit seiner Honda XL 600V TransAlp, Thomas mit einer nagelneuen Suzuki V-Strom 650 und Peter mit seinem alten „Wasserbüffel“ – einer Zweitakt-Suzuki GT 750 aus dem Baujahr 1978, bei der er wenige Tage vor dem Start noch eine Kolbenstange auswechseln muss. Kein gutes Ohmen? Peter ist ein Bastelprofi: der Wasserbüffel ist von Anfang an „sein“ Motorrad und er kennt nach eigenen Angaben jedes noch so kleine Bauteil inzwischen sehr persönlich! Die Probefahrt mit der neuen Kolbenstange verläuft zufriedenstellend.  

Bereits Wochen vorher beginnt die Etappenplanung. Mehr durch Zufall stoße ich auf die Internetseite von Ducati und erfahre dort, dass wir uns für eine Werksbesichtigung anmelden könnten. Die roten Rennflitzer sind zwar nicht unbedingt unser Ding, aber schön anzusehen sind die italienischen Bikes aus Bologna allemal. Die Besichtigung ist auch noch kostenlos, und so melde ich uns für den Freitag Nachmittag an. Eine kurze Kalkulation lässt mich vermuten, dass die Anreise von Deutschland über die alte Brennerstraße bis zur Ducati Edelschmiede am Rand des Apennin in anderthalb Tagen zu schaffen sein sollten. Ein wenig Zeitdruck, so denke ich mir im Stillen, ist auch nicht schlecht, dann bleibt auch noch ausreichend Zeit für die Toskana. Noch weiß ich nicht, dass sich alles ganz anders ergeben wird… 

Wir verabreden uns, bei dieser Tour in Zelten zu übernachten. Insofern ist das Gepäck diesmal etwas umfangreicher. Auch wenn Thomas eigentlich lieber in Gasthöfen übernachten würde, macht er trotzdem mit und kauft eines der sich selbst aufbauenden Zelte – die Dinger, die man nur in die Luft zu werfen braucht, und die sich dann dort selbst entfalten. Dafür aber muss er auch auf dem hinteren Gepäckträger eine riesengroße, kreisrunde Zeltverpackung befestigen, die für einen Pizzaschnelldienst als Transportunterlage für XXXL-Mafia-Torten sehr praktisch wäre.   

Am Abreisetag treffen wir uns kurz nach Sonnenaufgang am Dorfgemeinschaftshaus. Klaus erzählt, dass er bereits seit zwei Stunden wach ist und nicht länger schlafen konnte, so sehr freut er sich auf die Reise. Ich muss lachen. Nicht nur Klaus ist es in dieser Nacht so ergangen! Mit mächtigem Kribbeln im Bauch geht es los. Ein Rentner, der gerade seinen kleinen Hund früh morgens ausführt, blickt uns etwas vorwurfsvoll an. Es sieht so aus, als ob er jeden Moment sagen will „Morgens um fünf muss man im Dorf doch nicht mit lauten Motorrädern herumfahren!“ – bitte nicht ärgern, guter Mann, wir sind ja gleich weg. 

Zunächst fahren wir auf breiten Bundesstraßen in Richtung Süden. Nur vor den größeren Städten wie Göttingen, Kassel und Fulda nehmen wir vorübergehend doch die Autobahn. Es ist erstaunlich, wie zügig wir vorankommen. Bereits gegen Mittag haben wir Würzburg passiert und steuern auf Rothenburg zu. Den Nachmittagskaffee gibt es an einer Tankstelle bei Donauwörth und hinter Landsberg am Lech wird die Fahrt endlich gemütlich: die notgedrungen breiten und zügig befahrbaren Transitwege von Norddeutschland ins Bayerische sind vorbei. Ab jetzt kommen immer mehr kleine gelbe Straßen des östlichen Allgäu unter die Räder. Die ersten Berge der Alpen werden sichtbar, und unsere Vorfreude wächst. Schon bald werden wir unsere erste Passstraße erreichen: der Kesselberg zwischen dem Kochel- und dem Walchensee.  

Peter fuhr den ganzen Tag über immer als letzter in der Gruppe. Er selber wollte das so, denn sein Zweitakt-Motor erfüllt in der Tat keine der modernen Abgasvorschriften. Plötzlich aber überholt er uns alle, gibt ein Handzeichen und fährt auf einen Parkplatz direkt am Kochelsee. Nichts Böses ahnend denke ich, dass Peter sich vor den ersten Serpentinen noch ein wenig die Beine vertreten will, aber es kommt anders. „Irgendwas mit der Stromversorgung ist nicht OK! Ich glaube, die Batterie wird nicht mehr richtig geladen. Ich habe immer mehr Zündaussetzer.“  

Mist! Sollte der alte Wasserbüffel so kurz vor den sehnsüchtig erwarteten Alpenstraßen ernsthaft schwächeln? Peter ist als Elektriker zum Glück ein echter Fachmann und hat alle wichtigen Werkzeuge dabei, sogar ein digitales Vielfachmessgerät. Schnell ist die Seitenverkleidung an der 750GT abgebaut, und die Messungen können beginnen –  Peters Gesicht wird dabei immer ernster! Die Batterie hat nur noch knappe 11 Volt. Der Motor lässt sich erst nach kurzer Wartezeit gerade noch so starten. Hinterher wird klar, dass der Ladestrom nicht groß genug ist, um die Batterie wieder aufzuladen. 

„Wir könnten regelmäßig die Batterien zwischen den Moppeds wechseln, dann müsste es für jeweils 50 bis 100 Kilometer weitergehen.“ Na toll, jede Stunde eine Zwangspause mit Batteriewechsel – wobei mir nicht klar ist, ob sich die Batterien von ihrer Größe her überhaupt austauschen lassen. Auch eine Messung des Ladestromes bei ausgeschaltetem Licht ist nicht umwerfend. Nur knappe 12 Volt würden dann in die Batterie hineinfließen. Auf die Dauer reicht das nicht aus. 

Peter überprüft den Gleichrichter, der für den Ladestrom ebenfalls wichtig ist. Tatsächlich ist dieses Bauteil seiner 29 Jahre alten Suzuki reichlich verrostet. Auch mit dem Messgerät lässt sich hier und jetzt nicht feststellen, welcher der beiden Kontakte nun isoliert und welcher „auf Masse gelegt“ sein muss. „Ich denke, für zwanzig Kilometer reicht die Batterie noch. Lasst uns den nächsten Campingplatz anfahren. Da schaue ich mir die Sache genauer an. Wenn´s nicht klappt, dann fahrt ihr morgen weiter und mein Bruder holt mich eben auf dem Anhänger hier ab!“ 

Der Frohsinn der vergangenen Stunden ist dahin! Reichlich deprimiert fahre ich als erster die Kurven zum Kesselberg hinauf. Ein paar entgegen kommende Motorradfahrer geben mir Handzeichen, nicht zu schnell zu fahren. Vor uns kündigt sich eine Radarfalle an. Aber zum Rasen habe ich jetzt sowieso keine Lust mehr. Ständig beobachte ich die Jungs hinter mir im Rückspiegel und versuche Sichtkontakt zu Peters Wasserbüffel zu alten – für den Fall dass er nicht weiterfahren kann, will ich schnell wenden und zurück fahren können. Doch Peter und die GT bleiben dran! Gemeinsam erreichen wir den Camping Tennsee und wollen dort unsere kleine Zeltstadt aufbauen. 

Thomas ist mit seinem „Explosionszelt“ natürlich der Erste: tatsächlich baut sich sein Stoffhaus von selbst auf. Er muss nur noch die Häringe in den Boden schlagen – dann kann er auch schon einziehen.

Ganz anders bei mir: der nächste Schreck kommt nämlich, als ich mein Zelt auspacke. Ich habe mein kleines und leichtes Einmannzelt mit dem ähnlich verpackten Tarp verwechselt! Das kann doch nicht wahr sein. Nun habe ich nur die 4x4m große Zeltplane dabei. Klaus bietet mir sofort an, dass ich mit in sein kleines Zweimannzelt einziehen kann. Es wird aber verdammt eng: unsere gemeinsamen Sachen passen eigentlich nicht alle in das Vorzelt hinein, aber verglichen mit Peters Problemen sind meine Schwierigkeiten einfach nur lächerlich! 

Nach einer halben Stunde stehen unsere Zelte. Die ganze Zeit über hat Peter an seinem Motorrad herumgeschraubt. Aber wir bemerken, dass sein Gesicht inzwischen nicht mehr ganz so ernst ist wie vorhin! „Irgendwo kommt der Strom nicht durch, irgendwo ist kein Kontakt – bloß wo?!“ Wir alle checken unser Werkzeug und unsere Ersatzteile auf ihre Eignung zur Reparatur eines ziemlich vergammelt aussehenden, 29 Jahre alten Gleichrichters. Ich habe feines Schmirgelpapier dabei, mit dem ein verrosteter Kontakt wieder glänzend gemacht werden könnte. Ansonsten haben wir nur Schraubendreher in verschiedenen Breiten, mit denen ebenfalls an den Kontakten herum gekratzt werden kann. Aber wird das alles ausreichen? 

Der nächste Versuch bringt uns zum Jubeln: der Wasserbüffel springt wieder an – der Ladestrom liegt inzwischen bei knappen 13 Volt, wenn denn nur das Standlicht eingeschaltet ist. „Morgen früh wissen wir mehr!“, sagt Peter. „Wenn der Motor morgen früh wieder anspringt, dann kann es vielleicht weitergehen! Sonst muss ich mich mit dem Anhänger abholen lassen.“ 

Später sitzen wir im Restaurant des Campingplatzes und freuen uns über die reichhaltige Speisekarte. Erst nach und nach wird uns allen klar, dass wir die Werksbesichtigung bei Ducati in Bologna abhaken können. Peter ist das alles zwar peinlich, aber wir lassen keinen Zweifel daran, dass wir auf alle Fälle zusammen weiterfahren wollen – wenn denn sein Motorrad am nächsten Morgen anspringen wird... 

Nach dem Essen gehen wir zu den Zelten zurück und stellen fest, dass die Nacht frostig kalt werden wird! Der Sternenhimmel ist wolkenlos und wir können sogar unsere Atemluft vor dem Gesicht sehen. Am liebsten würde Peter jetzt den Motor noch einmal anlassen, er macht sich Sorgen, ob die Kälte der Batterie den Rest geben wird. Aber längst ist auf dem Zeltplatz Nachtruhe angesagt. Er muss also wohl oder übel bis morgen warten.  

Übrigens scheren sich die unzähligen Frösche am nahen Tennsee auch einen Deibel um die Nachtruhe: sie grölen dermaßen lautstark herum, dass ich zunächst gar nicht einschlafen kann – oder ist es auch bei mir die Sorge um die Batterie? Klar ist, wenn die Batterie nach dieser kalten Nacht morgen früh tatsächlich genug Spannung hat, um den Motor zu starten, dann kann alles wieder gut werden.  

Es ist so spannend wie ein Krimi: um kurz nach 8 Uhr stehen wir vor unseren Zelten und blicken zu Peter hinüber. Der steht an seiner Suzuki und bereitet das Anlassen vor.  

Es klappt! Der Motor springt an, und der 750ccm-Zweitakter heult auf.  Zwar schauen ein paar ältere Nachbarn aus ihren Wohnmobilen zunächst etwas grimmig zu uns herüber, aber unsere Freude über den gelungenen Start gibt ihnen die eindeutige Erklärung, dass hier am frühen Morgen nicht aus Jux und Dollerei Krach gemacht wird. Heute kann ich unumwunden sagen: " Ich liebe den Geruch von Zweitaktöl am Morgen...!"

Peter flucht und benutzt dabei das "böse Wort" mit Sch...! Eine M6er Mutter für den einen der beiden wichtigen Kontakte am Gleichrichter ist ihm irgendwo in den Rasen gefallen, und jetzt kann er sie nicht mehr finden. Er wollte den Kontakt noch einmal nachsehen, und jetzt fehlt ihm die entscheidende Mutter zum Festziehen. Die Suche bleibt auch nach 5 Minuten erfolglos. Ich gehe zur Campingplatz-Rezeption und frage dort, ob wir vielleicht eine Ersatzmutter aus der Werkstatt bekommen können. Die Dame hinter der Anmeldung ist hilfsbereit: ihr Mann sei zwar gerade irgendwo auf dem Platz unterwegs, aber ich solle doch selbst einmal in der Werkstatt nachschauen, ob ich etwas Passendes finden würde. Den Schlüssel bekomme ich auch gleich in die Hand gedrückt. Das ist doch wirklich nett! 

Als ich wenig später mit einer M6er Ersatzmutter (sogar in Edelstahl rostfrei!) wieder am Lager auftauche, ist Peter überglücklich. Nun kann er die Reparatur endlich zu Ende bringen. Während er sein Werkzeug einpackt, findet er auch noch die ursprüngliche Mutter wieder.

Nun steht der Weiterfahrt nichts mehr im Wege. Bald geht es am Zirler Berg 16% steil hinab ins Inntal und dann weiter in die Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck. Dort müssen wir zum Tanken einmal kurz anhalten. Wir anderen stehen dann schon mit laufenden Motoren und eingeschalteten Blinkern an der Ausfahrt zur Hauptstraße und warten. Aber Peter steht immer noch hilflos an der Zapfsäule, sein Büffel springt wieder nicht mehr an!  

Pures Entsetzen! Die Suzuki wird traurig auf den Hof hinter der Tankstelle geschoben.  Nun folgt ein bekanntes Ritual: Seitenverkleidung abbauen, Messgerät auspacken, anschließen, und wieder einmal zeigt es sich, dass an einem Stromanschluss kein ausreichender elektrischer Kontakt besteht – bloß an welchem?! Die Mühe mit dem feinen Schmirgelpapier hat nicht lange vorgehalten. Ich mache den Vorschlag, dass möglicherweise eine zusätzliche, gezahnte Unerlegscheibe endlich für eine dauerhafte Lösung sorgen könnte. Bloß wo bekommen wir eine solche M6er Zahnscheibe möglichst schnell her – die Tankstelle hat jedenfalls solche Einzelteile nicht vorrätig. Die stark geschminkte Dame an der Kasse verweist uns zu einer nahegelegenen Reparaturwerkstatt für Autos an der Karwendelstraße.  

Sie versucht uns den Weg zu beschreiben, aber das ist nicht nötig. Mein Garmin Zumo kennt sich in Innsbruck nämlich hervorragend aus. Bereits ein paar Minuten später stehe ich unmittelbar vor „Yüksels Autogarage“. Vermutlich liegt es daran, dass der durch und durch freundliche Mitarbeiter von Yüksel mit der Bezeichnung Zahnscheibe überhaupt nichts anfangen kann und selbst wohl kaum Deutsch spricht, zumindest nicht mein Hochdeutsch – erst als Yüksel persönlich aus dem Büro gerufen wird, erfahre ich, dass seine „Autogarage“ mir hier nicht weiter helfen kann. Der Chef gib sich aber wirklich Mühe, er beschreibt mir in bester österreichischer Mundart den Weg zu einem nahe gelegenen Schraubenfachhändler an der Ampfererstraße. „Doa kriag´st g´wiss a Scheib´n!“ 

Der Weg zur „Ampferer“ ist für das Navi auch kein Problem. Ich muss zwar in dem Fachgeschäft zunächst eine ganze Weile warten, bis ich an der Reihe bin, aber plötzlich geht alles sehr schnell. Der freundliche Mitarbeiter erkennt meine Motorradgarderobe und fragt, während wir quer durch das Geschäft zu einem langen Gang mit zwei Hochregalen prallvoll mit Schachteln und Kisten für unzählige Einzelteile gehen, um welches Motorrad es sich denn bei der Reparatur handelt. Fast muss ich ungläubig den Kopf schütteln, als der Typ mir miteilt, auch er habe jahrelang einen Wasserbüffel gefahren. An seiner Maschine habe der Gleichrichter irgendwann ebenfalls nicht mehr funktioniert. Er habe sich damals mit Kontaktspray kurzfristig helfen können. Eine Zahnscheibe wäre aber auch eine gute Idee. Damit klettert er die Trittleiter empor, greift in der vierten Regaletage in eine Pappschachtel und drückt mir anschließend mindestens 20 Zahnscheiben M6 in die Hand, schaut sich kurz um und schmunzelt. „Passt scho´ – zahl´n musst nix! Macht´s guat!“ Ich bin sprachlos und drücke ihm dankbar die Hand. Biker!  

Während wir gemeinsam in Richtung Ausgang gehen bekomme ich noch die Adresse eines Autozubehörhändlers gleich neben dem ehemaligen Olympiagelände aus dem Jahr 1976. „Do kriagst dös WD-40er sicher!“ Bevor ich zu den anderen zurück fahre, besorge ich also auch noch ein Döschen Sprühöl für Peters Büffel.  

Peter ist begeistert über die Ausbeute. Sofort macht er sich an die Arbeit. Die anderen Jungs sitzen derweil im T-Shirt recht gelangweilt unter einem Kastanienbaum an der Rückwand einer Mauer. Zumindest die Sonne meint es gut mit uns. Wir hoffen alle, dass wir endlich in Kürze weiterfahren können. Inzwischen ist sich Peter absolut sicher, dass er den unseligen Kontakt, der für all den nicht enden wollenden Ärger gesorgt hat, herausgefunden hat. Mit Spray und Zahnscheiben wird nun nicht gespart: schließlich ist es geschafft: die Batterie hat sich inzwischen ebenfalls etwas erholt und lässt den Motor anspringen. Bei leicht erhöhter Motordrehzahl und eingeschaltetem Standlicht ist der Ladestrom mit knapp 13 Volt ausreichend für ein künftig gesundes Batterieleben. „Und wenn die Carabinieri wegen des Lichtes meckern sollten, dann hast du einfach vergessen, den Schalter ganz umzulegen…!“  

Weit mehr als eine Stunde hat uns der Wasserbüffel in Innsbruck aufgehalten. Irgendwo entlang der Brennerstraße wollen wir uns etwas fürs Mittagessen besorgen und dann die weitere Fahrt besprechen. Immer noch hoffe ich, dass wir es bis in die Toskana schaffen werden. Florenz, Siena, San Gimignano: ich hatte mir die Tour so schön ausgedacht. Ich schaue auf die Uhr. Eigentlich wäre jetzt genau der Termin für Ducati in Bologna gewesen. Wir hätten es schaffen können, wenn nicht all die zeitaufwendigen Reparaturen gewesen wären. 

Die Autobahn nehmen wir trotzdem nicht, denn hetzen müssen und wollen wir auf dieser Tour nicht. Wir fahren auf der alten Brennerstraße aus Innsbruck heraus. Dabei fällt mir das alte Abschiedslied von Heinrich Isaac ein, dass ich während meiner Schulzeit auswendig lernen musste: Innsbruck, ich muss dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen, in fremde Land dahin. Mein Freud ist mir genommen…  Doch im Gegensatz zum damaligen Lied sind wir vier Motorradfahrer aufrichtig froh, Innsbruck verlassen zu können, und noch dazu mit einer endgültig funktionierenden Suzuki 750GT und einem strahlenden Peter!  

In Steinach am Brenner parken wir hintereinander auf dem Gehweg vor einem Supermarkt. Brötchen, kalten Fleischkäse, etwas Käse, ein paar Tomaten und Obst. Das wird ein leckeres Mittagessen. Schau´n wir mal, wo wir ein hübsches Plätzchen finden werden.

Die ehemalige Grenzstation auf dem Brenner ist schon merkwürdig: Gaststätten, Tankstellen, Geschäfte – man versucht, die Gebäude, die nach dem Schengener Abkommen und der anschließenden Grenzöffnung ihre ursprüngliche Bedeutung als Grenzschutz- und Zollposten verloren haben, irgendwie weiter sinnvoll zu nutzen. Outlet-Stores mit Super-Schnäppchen animieren die zahlreichen Vorbeifahrenden zu einem Zwischenstop. Hier oben dreht sich inzwischen alles nur ums Geld. Überall hängen Werbeplakate herum. In den Läden ist erstaunlich viel los. Insgeheim beobachte auch ich die Auslagen der Geschäfte. Bei der Weiterfahrt erinnere ich mich an einen Bekannten, der mir einmal davon erzählt hatte, es gäbe in Sterzing zahlreiche Sportgeschäfte, wo man sehr günstig Skier, Rucksäcke oder Wanderstiefel bekommen könne. Ich denke an die kommende Nacht. Klaus wird ganz sicherlich auch nichts dagegen haben, wenn ich versuchen sollte, mir ein billiges „Notzelt“ zu organisieren. Aber hier oben auf dem Brenner klappt es noch nicht. Also weiter! 

Später geht es durch die enge Ortsdurchfahrt von Gossensaß. Auch wenn mir ein (zugegebenermaßen wirklich saublöder) Schüttelreim nichts Gutes ahnend durch den Kopf schießt – Ein Auto fuhr durch Gossensaß. Durch eine wahre Soßengass´. Bis das die ganze Gassensoß´ sich über die Insassen goß! –  kommen wir heute (selbstverständlich) unbeschadet durch. Nichts pladdert auf uns herab. 

Am Ortseingang von Sterzing halte ich schließlich an und teile den Freunden meinen Einkaufswunsch mit. Nach dem Brennerpass haben die Jungs Blut geleckt! Das Wetter ist einfach zu herrlich und der Jaufenpass hinüber nach Meran ist eindeutig die bessere Alternative zur breiten Fernstraße durch das Eisacktal über Brixen nach Bozen. So beschließen wir, uns kurzfristig zu trennen. Klaus und ich bleiben zusammen und suchen in Sterzing nach einem Campinggeschäft. Thomas und Peter werden schon einmal die Jaufenstraße hinauf fahren und an einem schönen Picknickplatz in der Sonne irgendwo auf uns warten. „Wir können uns ja nicht verfehlen! Es gibt nur diese Straße. Irgendwo treffen wir euch! Sucht etwas Nettes aus!“ 

Der Tipp mit dem Camping-Outlet ist ein absoluter Reinfall. Ich frage im Ort mehrere Einheimische. Überall die gleiche Auskunft. In Sterzing haben sich die Einzelhändler auf alles Mögliche spezialisiert, aber nicht auf preisgünstige Zelte. So fahren Klaus und ich bereits nach wenigen Minuten den anderen hinterher. Bald haben wir die Abzweigung zum Jaufenpass erreicht. Das Hinweisschild neben der Straße ist grün – die Wintersperre ist aufgehoben, und der Jaufenpass zeigt sich von seiner besten Seite. Die Straße ist trocken und nur wenig befahren. 

Wir legen uns tüchtig in die Kurven und kommen schon bald aus dem Wald heraus. Weiter oben liegen noch ausgedehnte  Schneefelder vor uns. Später müssen wir an einigen Kurven höllisch aufpassen, denn Schmelzwasser fließt gelegentlich quer über die Straße und macht den Belag in den Kurven rutschig. Aber der dunkle Teerbelag ist gleich dahinter wieder trocken. Wir malen dann mit unseren Reifen für kurze Zeit einen nassen Strich auf die Fahrbahn. Obwohl wir schon an mehreren schönen Rastplätzen vorbei gekommen sind, ist von unseren beiden Vorausfahrern immer noch nichts zu sehen. Vor einem Gasthaus knapp 200 Meter unterhalb der Passhöhe stehen viele Motorräder in der Mittagssonne. Von den beiden anderen ist aber auch hier nichts zu sehen. Allmählich kommt mir die Sache merkwürdig vor. Oben auf der Passhöhe halten wir an. Thomas und Peter sind auch hier nicht da. Trotz des intensiven Sonnenscheines ist es auf 2094m Höhe ganz schön kühl – vielleicht zu kühl für eine Picknickpause? „Bestimmt sind die beiden wieder etwas weiter nach unten gefahren. Da ist es wärmer. Also los, weiter!“ 

Aber auch 20 Minuten später ist von den beiden immer noch nichts zu sehen. Ist da vielleicht irgend etwas passiert? „Wir hätten sie doch sehen müssen! Oder sind wir so schnell hochgefahren, dass wir sie irgendwo übersehen haben?“ 

Klaus holt sein Handy heraus und versucht Kontakt mit den beiden anderen aufzunehmen. Aber mehr als die Ansage „Der gewählte Teilnehmer ist vorübergehend nicht zu erreichen!“ ist nicht zu hören. Nun ist guter Rat teuer. Wo sind die anderen? Sind sie vielleicht noch weiter voraus gefahren? Höchst unwahrscheinlich: wir sind an so vielen schönen Plätzen vorbei gekommen, warum sollte die beiden alle diese Plätze ausgelassen haben? Die beiden müssen aus irgendeinem Grund noch hinter uns sein! So beschließen wir, dass wir hier gut sichtbar neben der Straße auf die anderen warten werden – und beginnen schon einmal mit unserem Picknick. Rasch ist der Campingkocher ausgepackt. Direkt nebenan plätschert ein kleine Bach von oben auf uns zu. Ich fülle den Wasserkessel auf und schon bald gibt es einen Cappuccino. 

Immer wieder blicken wir von unserem Essen auf, wenn mal wieder Motorräder von oben auf der Straße angefahren kommen. Wir können die Maschinen schon von weitem hören, wenn sie vor den Kurven weiter oben herunter schalten und anschließend wieder Gas geben. Aber da ist kein Zweitaktmotor dabei… 

Wir sitzen auch nach einer halben Stunde immer noch zu zweit in der Sonne. Unser Mittagessen ist längst vorbei. Langsam mache ich mir Sorgen. Ist wieder etwas mit Peters Motorrad passiert? Irgendwie kommen wir auf dieser Tour einfach nicht voran! Wohl oder übel wenden Klaus und ich unsere Motorräder und fahren die Jaufenstraße deutlich langsamer und auf jede Ausweichstelle und jeden Rastplatz blickend zurück. Wieder kommen wir am großen Parkplatz auf der Passhöhe vorbei – nichts! 

Erst als wir zu zweitenmal am Gasthof vorbei fahren, stehen die beiden in Seelenruhe neben ihren Motorrädern und wundern sich, dass wir von oben herab kommen. Auch Peter und Thomas haben sich schon Sorgen gemacht. Die Sache klärt sich aber schnell. Thomas war hinter Sterzing genau in dem Moment am Hinweisschild zum Jaufenpass vorbeigefahren, als er einen LKW überholte. So fuhr er nichtsahnend weiter auf der falschen Straße  in Richtung Ridnaun. Erst später wurde ihm klar, dass er sich verfahren hatte und  längst hätte wenden müssen. Inzwischen waren Klaus und ich bereits vor ihnen zum Jaufenpass hinauf unterwegs.  

Gegessen haben die beiden inzwischen auch schon – die gemeinsame Weiterfahrt nach Meran kann also endlich beginnen. „Lasst uns dort auf dem Campingplatz bleiben. Weiter kommen wir heute sowieso nicht mehr. Dann lieber früh Schluss und hinterher essen wir irgendwo in der Stadt!“ schlage ich vor. Und genau so wird es gemacht.  

Die Fahrt durch das Passeiertal erweist sich zunächst als ausgesprochen „zäh“! Immer wieder fahren auf der kurvenreichen und unübersichtlichen Straße vor uns PKW, die in der Hutablage eine gehäkelte Klopapierrollen-Abdeckung oder aber einen Wackelkopf-Hund zur Ansicht ausstellen. Es ist zum verrückt werden. Je näher wir der Abzweigung zum Dorf Tirol kommen, je dichter und langsamer wird der Verkehr. Selbst mit unseren Motorrädern haben wir nur selten eine gute Chance zum Überholen.  

Endlich haben wir am späteren Nachmittag den Campingplatz Merano an der Via Piave erreicht. Die freundliche Dame in der kleinen Rezeption spricht als echte Südtirolerin natürlich auch Deutsch. Bei meiner Frage, ob es vielleicht ein Geschäft in der Nähe geben würde, in dem ich ein preiswertes Zelt kaufen könne, lacht sie und holt, als hätte sie nur darauf gewartet, den neuesten Lidl-Prospekt unter dem Tresen hervor. Auf Seite 1 steht das Angebot der Woche: ein in typischen Lidlfarben blau-gelb gehaltenes Dreimann-Doppeldachzelt für einen lächerlichen Preis. Die Adresse der nächsten Filiale kann ich auch gleich in mein Navi eingeben, und schon geht es, diesmal alleine, wieder los. Die anderen bauen derweil schon mal auf. Aber bereits eine gute halbe Sunde später bin ich zurück und kann meine neue Unterkunft neben den anderen Zelten aufbauen. Klaus freut sich auch: zu zweit war es während der vergangenen Nacht schon recht eng in seinem Zelt. 

Good times are back again! Die Anfangsschwierigkeiten unserer Tour sind überwunden. Nachdem wir uns „stadtfein“ gemacht haben, ziehen wir los zum Abendessen. Die Suche nach einer gemütlichen Pizzeria ist nicht schwer: der Campingplatz liegt im Zentrum von Meran direkt neben der Pferderennbahn, und entlang der belebten Straßen gibt es gleich mehrere Lokale zur Auswahl. Und während wir auf das Essen warten, diskutieren wir bei aufgeschlagener Landarte unsere weitere Tour – die Ideen reichen von „Lasst uns in den Alpen bleiben.“ bis hin zu „Toskana, oder was?!“. Die erzwungene Langsamkeit hat auch ihr Gutes. Wir einigen uns nämlich einstimmig darauf, dass es auf alle Fälle gemütlich weitergehen soll. Das ist doch schon mal was. Zwei Tage auf dem Motorrad sind bereits vergangen. Vier Tage im Sattel und im sonnigen Süden liegen noch vor uns. Die völlig offene Route birgt auch einen abenteuerlichen Reiz. Also erst mal Prost und Guten Appetit! Später sehen wir weiter… 

Petrus meint es auch am nächsten Morgen gut mit uns in Südtirol. Kaum sind die Motoren nach unserer Abfahrt auf Betriebstemperatur gebracht, geht es auch schon auf das Gampenjoch hinauf. Ein einheimischer Geländewagen gibt die Geschwindigkeit vor: der Typ kennt offensichtlich jede einzelne Kurve aus dem FF. Er brettert gnadenlos bergan, aber wir bleiben ihm an den Fersen.  

Hinter der Passhöhe ändern sich die Ortsnamen und die Architektur der Häuser schlagartig. Wir haben endgültig die Sprachgrenze von Südtirol zum Trentino erreicht und kommen nun immer weiter ins „Italienische“ hinein. Klar, wir hätten viel schneller auf der breiten Straße im Etschtal und im Vallagarina vorankommen können – aber wir haben uns entschieden, dass wir uns in Sichtweite der Brenta über Molveno an den Gardasee heranpirschen. Und diese Entscheidung war gut! Leider, leider ist die atemberaubende Straße entlang eines jähen Abgrundes mit zahlreichen fotogenen Tunnelportalen zwischen dem südlichen Ende des Molvenosees und der Ortschaft San Lorenzo inzwischen gesperrt – stattdessen müssen wir in einem langweiligen, hypermodern beleuchteten Tunnel hindurch fahren. Der Wintersportort Molveno brauchte wohl unbedingt eine winterfeste Zufahrtstraße von Süden her. Aber musste deshalb die alte Straße als echtes Motorradschmankerl komplett geschlossen werden? Wirklich schade drum!  

Irgendwann erreichen wir kurz vor Tenno in einer engen Serpentine den ersten Blick auf Riva am Gardasee. Wir halten sofort an un genießen den Blick. Ein warmer Südwind weht uns entgegen. Auf der Wasserfläche erkenne ich Segelboote und Surfer. Winzig kleine Autos fahren scheinbar langsam auf der Uferstraße entlang. Die malerische Aussicht ist wunderschön. Fast können wir uns nicht trennen. Wir können es von hier aus zwar noch nicht erkennen, aber hinter dem Gardasee hören die Alpen auf. Sicher liegt es daran, dass wir uns auf den kleinen Nebenstraßen sauwohl fühlen, denn unser ehemaliger Slogan „Toskana, oder was?!“ wird ein weiteres mal den Alpenpässen zuliebe aufgeschoben. Es soll durch das Val di Ledro hinüber nach Storo gehen. Erst auf dem Passo di Croce Domini wollen wir uns, weil es einfach zu schön ist, endgültig von den Alpen verabschieden.   

Bereits im winzigen Lodrone schickt mich das Navi scharf rechts in eine sofort extrem steil ansteigende, superschmale Straße – eigentlich ist es gar keine Straße mehr, sondern eher ein breiter Fußweg – die anderen folgen mir zögerlich. Ich selber zweifele an der korrekten Wegempfehlung. Aber es stimmt! Die Zufahrt zum Croce Domini gelingt auch über diese winzige Bergstraße, die uns durch das verschlafene Bergdorf Riccomássimo hinüber nach Bagolino bringt. Kein Hinweisschild hatte den Weg angekündigt. Ohne Navi hätte ich diese Straße weder gefunden noch ausgewählt.    

In Bagolino läuten die Glocken. Als wir langsam an der Kirche und dem verwinkelten Vorplatz vorbei kommen, ist eine Brautgesellschaft dabei, sich vor dem ehrwürdigen Gebäude zu versammeln. Überall stehen geschmückte Autos herum. Noch aber ist das Brautpaar nicht zu sehen. Schade! Ich hätte ansonsten sicher zwei- dreimal gehupt und mit der Hand gewunken, selbst wenn das Hupen in italienischen Ortschaften eigentlich verboten ist. 

Jäh und völlig unvorhergesehen ist kurz hinter Bagolino Schluss! Die Wintersperre für den Passo di Croce Domini ist selbst im Juni immer noch nicht aufgehoben! Während wir am Wegesrand neben der Hinweistafel stehen, kommt ein älterer Herr zu Fuß die Straße hinab. Er ruft uns etwas auf Italienisch zu und gibt uns mit den Händen ein zusätzliches Zeichen.  Ich verstehe zwar nur die Worte „alta“ und „neve“, aber auch dank seiner Handzeichen wird klar, dass er uns mitteilen will, dass der Schnee auf der Passhöhe immer noch gut einen Meter hoch ist. Mist! 

Aber trotzdem „Grazie, Signore!“. Wir müssen also zurück fahren. An der Kirche in Bagolino ist das Brautpaar inzwischen angekommen. Die ganze Gesellschaft ist total schick angezogen. Als Biker passen wir eigentlich überhaupt nicht dazu. Aber ich mache mir doch den Spaß, trotz Hupverbot im Vorbeifahren lautstark zu grüßen. Die Damen in ihren schicken, langen Kleidern und die Herren in ihren edlen Anzügen sind zwar überrascht, freuen sich aber allesamt und winken uns lachend zurück. Doch schon sind wir an der Kirche vorbei und brummen weiter nach Süden aus Bagolino heraus. 

Irgendwann haben wir östlich von Bréscia die Alpen endgültig hinter uns gelassen und fahren auf schnurgeraden Straßen in die völlig flache Poebene hinein.  

Ich selber empfinde die Straßenführung nicht unbedingt als langweilig. Es ist eine Abwechslung zu den kurvenreichen Straßen der letzten Stunden – und es hat den Vorteil, dass wir zügig voran kommen. Außerdem ist es interessant zu sehen, wie hier die Leute leben: neben den meisten Feldern liegen tiefe Gräben zum Bewässern, der Mais steht bereits hoch gewachsen, Weizen und Zuckerrüben werden auch angebaut, eher selten entdecke ich ein Reisfeld.  

Die Dörfer, durch die wir auf schnurgerader Straße hindurchfahren sind meist nicht groß. Aber selbst die kleinen Ortschaften haben auffallend prächtige, marmorverkleidete Kirchen. Manchmal denke ich, jeden Augenblick müsste ein Don Camillo oder sein Erzrivale Bürgermeister Peppone aus der Tür heraus kommen. Bei einer kleinen Pause vor einer ebensolchen Kirche fällt uns gegenüber am Pfarramt das Hinweisschild "Bierfest" auf - "tipico italiano"?! 

Casalmaggiore erreichen wir am späten Nachmittag und überqueren endlich den hier sehr breiten Fiume Po auf einer langen Brücke. Am südlichen Horizont erkennen wir hinter den Dächern der Großstadt Parma bereits die Berge des Apennin.  Die komplette Durchquerung der Po-Ebene hat nur eine gute Stunde gedauert. Ich bin gespannt, was uns nun erwarten wird. Hinter den Bergen beginnt die Toskana!  

Zunächst aber müssen wir durch Parma hindurch – oder besser gesagt an Parma vorbei. Das ist leider nicht ganz einfach, denn Ausschilderung für Ortsfremde ist katastrophal! Außerdem hat inzwischen auch im Großraum Parma der Wochenend- bzw. Feierabendverkehrs voll begonnen. Die nächste halbe Stunde wird kein schönes Fahren! 

Erst später hinter Fornuovo di Taro wird die Straße wieder einsamer. Allerdings sind wir seit einiger Zeit ständig parallel zur Autobahn A15 unterwges, und die „verkehrsgünstig“ ins Tal hineingebaute Autostrada ist wahrlich kein Augenschmaus! Naturschutz, Streckenführung und Baugenehmigung haben hier vermutlich eine hochinteressante Entwicklungsplanung hinter sich – „bella italia“ macht´s möglich! Ich bin froh, als wir schließlich rechts ins Mózzola-Tal abbiegen, um den kleinen Campingplatz bei  San Siro anzufahren. 

Es heißt zwar „Wer sucht, der findet!“, aber beim Campingplatz San Siro ist das anders: der Karteneintrag erweist sich nämlich als falsch. Der Platz existiert nicht mehr. Wir fahren gleich zweimal durch den Ort und halten rechts wie links Ausschau. Kein Zelt, kein Wohnwagen, kein Hinweisschild, nichts deutet auf eine Übernachtungsmöglichkeit hin! 

Das Mózzola-Tal in den Apennin ist ein abgelegenes, kleines Tal. Dichte Laubwälder bedecken dieses "Sackgassental". Hätte ich heute Abend nur eine Landkarte dabei gehabt, dann wäre ich gezwungen gewesen, missmutig umzukehren, um 20 kurvige Kilometer zurück wieder auf die größere Hauptstraße ins Taro-Tal zu kommen. Erst in Borgo im Val di Taro soll nämlich der nächste Campingplatz liegen - den es hoffentlich gauch eben wird. Von San Siro aus betrachtet wäre das eigentlich gleich auf der anderen Seite des Berges. Aber dorthin gibt es laut Karte eigentlich keine direkte Straßenverbindung.  

Eigentlich! Wieder einmal ist mein Navi ein hilfreicher Kumpel. Meine Freunde wissen inzwischen, dass sie mir dank dieser Unterstützung auch bei scheinbar „unmöglichen“ Wegen bedenkenlos folgen können. Tatsächlich geht es zunächst auf einem noch geteerten einspurigen und extrem kurvenreichen „Sträßchen“ durch dichten, anfangs dunklen Laubwald  steil bergan. Wir müssen sehr langsam und konzentriert fahren. Die Straße windet sich so unübersichtlich bergan, dass wir äußerst langsam fahren müssen, denn jederzeit kann uns ein Fahrzeug entgegen kommen. Dann wäre kein Ausweichen möglich – so eng geht es hier zu! Langsam aber beständig geht es so bergan. 

Irgendwann hört der Teer auf, irgendwann lichtet sich der Wald mehr und mehr, und irgendwann mache ich mir Gedanken, ob dieser schmale Weg nun wirklich der richtige Weg hinüber nach Borgo ist. Genau in diesem Moment kommt uns genau auf der Bergkuppe in einer engen Rechtskurve ein kleiner italienischer PKW ebenfalls ganz langsam entgegen und stoppt sofort. Mit weit aufgerissenen, staunenden Augen und ebenso offenen Mündern schauen uns die beiden älteren Insassen an. Offensichtlich ist auf dieser Piste der Satz „Gegenverkehr mit vier Motorrädern“ überhaupt noch nicht vorgekommen! Der Anblick der beiden ist wirklich köstlich! Ich mogele mich ganz langsam an ihnen vorbei. Dabei grüße ich sie so zurückhaltend wie ich nur kann, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. Es sieht so aus, als wäre es für die beiden eine „Begegnung der dritten Art“!  

Inzwischen bin ich mir endgültig sicher, dass diese kleine Straße uns tatsächlich irgendwann nach Borgo bringen wird. Manchmal ist Gegenverkehr nämlich sogar beruhigend! Zunächst geht es aber auf steilen Serpentinen bergab. Der Teebelag ist mit großen Schlaglöchern durchsetzt. In den Kurven liegen auf dem alten Fahrbahnbelag große Kieselsteine herum, und das macht die Durchfahrt nicht gerade einfacher. Dann ist irgendwann die breite SS 523 unten im Taro-Tal zu erkennen. Na also! 

Auf dem Campingplatz Europa in Borgo sind Durchreisende wie wir die absolute Ausnahme. Sämtliche Stellplätze sind ausschließlich von Dauercampern belegt. Ansonsten gibt es keinen einzigen freien Stellplatz mehr. Aber wir sind in Italien – und mit ein wenig „improvvisazione“ kommen wir – nessun problema, Signori! – mitten auf dem breiten Weg zwischen einigen Dauercampern unter. Dort finden wir sogar noch ein paar uralte Kunststoff-Gartenmöbel (später bricht ein Stuhl davon unter Thomas Gewicht zusammen) und der Rasen steht zwar recht hoch, aber auch das sollen wir bitte „conveniente“ sehen. Sicher hätte man hier vor zwei, drei Wochen ein wenig mähen können, aber so ist es doch viel weicher auf dem Boden für uns im Zelt. Na, haben wir aber heute ein Glück! 

Es ist bereits dunkel, als wir uns gemeinsam aufmachen, um zum Abendessen zu gehen. Der Besitzer des Campingplatzes lauert uns noch am Tor auf. Er sagt uns, er hätte inzwischen bei seinem „wirklich guten Freund“, einem Restaurantbesitzer in der Stadt, extra für uns angerufen, damit wir dort auch einen Tisch bekommen würden. Schon beschreibt er uns den Weg. Aber können und sollen wir ihm trauen? Oder sind wir auf dem Weg, reingelegt zu werden? 

„Umkehren können wir immer noch! Lasst uns einfach mal sehen!“ sagt Klaus, und so ziehen wir los. Das angekündigte Lokal entpuppt sich als Jugendtreff in Borgo. Tatsächlich werden wir schon erwartet. Der „capo“ persönlich führt uns nach hinten. Alle Tische, an denen wir vorbei kommen sind besetzt. Tatsächlich aber ist im hinteren Zimmer für uns ein Tisch freigehalten worden. Die anderen Gäste beobachten uns zwar zunächst auffällig, aber hier sitzen wirklich nur ganz normale Italiener. Schon ist wieder jeder und jede mit dem Essen beschäftigt, zwischendurch wird lautstark erzählt. Unser Argwohn schwindet. Dann kommt die Bedienung. Die Speisekarte zeigt hinter den typisch italienischen Speisen ebenfalls völlig normale Preise. Und die überall besetzten Tische sprechen auch für das Lokal.  

Also Entwarnung! Campingwart und Pizzawirt meinen es beide wirklich gut mit uns. „Dapprima quattro Moretti, per favore!” – Zuerst mal vier Moretti… 

Nach dem Frühstück auf dem Campingplatz brechen wir auf. Es ist Pfingstsonntag. Die große Tankstelle bei einem Einkaufszentrum ist menschenleer und geschlossen. Peter hätte gerne den Tank seines durstigen Wasserbüffels vor unserem zweiter Apennin-Pass, dem Passo del Brattello, noch einmal aufgefüllt. Das scheint hier nicht zu klappen. Thomas und Peter wollen noch einmal durch den Ort fahren, um auch andere Tankstellen zu checken. Klaus und ich warten derweil auf dem Parkplatz des Einkaufszentrum. Als ich meinen erst einige Wochen alten Klapphelm abnehmen will, passiert es. Der Öffnungsmechanismus funktioniert nicht mehr. Ich kann den Helm mit dem roten Schiebhebel nicht öffnen. Der Helm lässt sich nicht  abnehmen.  

Na toll! Klaus kann auch von außen nichts machen. Eins ist aber klar: das Ding muss vom Kopf und repariert werden. Eigentlich ist die untere Halsöffnung für meinen „Dickschädel“ viel zu klein - aber ich entscheide mich für die harte Tour, nehme meine Brille ab und ziehe solange am Helm, bis er endlich vom Kopf ist. Meine Ohren sind anschließend krebsrot.  

Wir untersuchen den Helm. Ein dünnes Stahlseil, dass die rechte und linke Verriegelung gleichzeitig öffnen soll, hängt ohne Spannung im Kinnteil herum. Eine kleine, etwa 10 Cent-große Umlenkrolle, die für die Seilspannung zu sorgen hätte, fällt mir entgegen. Die Rollenachse ist abgebrochen. Da ist auch „mit Bordmitteln“ nichts mehr zu machen. Klaus hat eine Idee: mit einem kleinen Kabelbinder, der um das Stahlsein gebunden wird und der anschließend aus dem Kinnteil heraushängt lässt sich die Arretierung austricksen.  

Es kann weitergehen.  Im dichten Laubwald geht es auf dem Passo del Brattello munter bergan. Die Straße ist herrlich kurvig und der Teer griffig. Nur ganz selten kommt uns ein einzelnes Fahrzeug entgegen.  

Gegen Mittag haben wir das Garfagnana Tal erreicht und machen eine Pause. Endgültig steht fest, dass wir auf dieser Tour nicht einen einzigen Kilometer in der Toskana fahren werden. Trotzdem ist keiner von uns enttäuscht. Bisher haben wir zusammen eine Menge Spaß gehabt, und zwei Höhepunkte auf der Rückfahrt in Richtung Alessándria liegen immer noch direkt vor uns. „Lasst uns nach dem Essen die Marmorsteinbrüche bei Carrara angucken und dann nach La Spezia zur Küste fahren.“ Kopfnicken um mich herum. Schnell ist der Tisch neben dem Parkplatz gedeckt und wir können es uns gut gehen lassen. Mit dem Taschenmesser säbele ich mir etwas Wurst und Käse ab, zerteile eine Tomate und halbiere ein Stück vom Weißbrot. Mahlzeit! 

Hinter Castelnuovo geht es in den Parco Regionale delle Alpi Apuani hinein. Das Tal wird abenteuerlich eng. An machen Stellen ist es steil und felsig wie in einer Klamm. Immer höher geht es bergan. Wir kommen an einer kleinen Wallfahrtskirche bei Isolasanta vorbei. In einem kleinen See liegt eine Insel, darauf steht eine Kapelle – daher der Name „Heilige Insel“. Weiter geht es hinauf in die Küstenberge.  

Plötzlich und unerwartet liegt unmittelbar rechts neben der Straße ein Steinbruch. Den wollen wir uns einmal näher ansehen. Zum ersten mal darf meine GS hier auf edlem Marmor parken. Als ich den Seitenständer ausklappe, geben die weißen Steinchen verdächtig nach, einige zerbröseln sogar. Marmor ist kein besonders fester Stein. Vorsichtshalber schiebe ich mit der Fußspitze eine etwas größere Steinplatte unter den Ständer. Alle beliebigen Größen liegen hier auf dem Boden herum. Nun steht mein Motorrad sicher, und ich kann absteigen.  

Durch den Abbau des teils reinweißen, teils mit schwarzen Einlagerungen durchsetzten Steins hat sich in der Felswand hinter dem Parkplatz, auf dem nun unsere Motorräder stehen, ein gewaltiges Tor ergeben: am Boden vielleicht 6 Meter breit erstreckt sich die künstliche Lücke im Fels wie ein riesiges gotisches Fenster einer Kathedrale etwa 30 Meter in die Höhe. Hier müssen wir durch – nach 20 Metern Tunnel erstrahlt im Sonnenlicht der eigentliche Steinbruch. Rasch wir klar, dass hier gegenwärtig kein Marmor mehr abgebaut wird. Der Steinbruch ist stillgelegt und kann daher besichtigt werden. 

Unmittelbar vor uns liegt eine mit riesigen senkrechten und geometrisch angeordneten Felswänden versehene Grube – es könnte die Wanne eines gigantischen Freibades sein, so ebenmäßig sind die Felswände gearbeitet, aber das Wasser fehlt. Das Becken wäre 20 Meter tief. Unten am Boden wachsen inzwischen mannshohe Birken und andere Büsche. Vereinzelt liegen unten herabgestürzte Marmorblöcke. Der Steinbruch hat enorme Ausmaße.

Im Sonnenlicht müssen wir ganz schön mit den Augen blinzeln, so sehr blendet uns der helle Stein. Recht verloren kommen wir uns entlag der steilen, senkrechten Flächen vor. 

Während wir oben am Beckenrand vorsichtig entlang gehen und mit unseren Motorradstiefeln acht geben, nicht auszurutschen, entdecke ich an den seitlichen Wänden Graffiti. Irgend jemand hat der Nachwelt mit roter Sprühfarbe unter anderem hinerlassen: „Regina, ti amo!“ Zumindest Regina hätte Grund sich an dem Anblick zu erfreuen… 

An einigen Stellen unten am Boden und oben am Fels sind fest verankerte, eiserne Umlenkrollen zu erkennen. Auf einer Hinweistafel erfahren wir, dass man die Marmorblöcke tatsächlich mit langen, endlosen Stahlseilen wie bei einer Bandsäge aus dem Fels herausschneidet. Zuerst erfolgt eine senkrechte und eine waagerechte Bohrung, die sich irgendwo im Fels treffen. Dann wird das Stahlseil durch die Bohrungen hindurchgefädelt, und schon kann der Schnitt beginnen. Daher kommen auch die geraden und glatten Flächen. Marmor ist bekanntermaßen kein besonders fester Stein – dieses Verfahren ist daher technisch problemlos und ohne großen Aufwand möglich. Je tiefer man in die Grube hineinblickt, je mehr ist der Fels von schwarzen Einlagerungen durchsetzt. Die bei Marmor so begehrte weiße Farbe kommt immer seltener vor. Sicherlich ist das auch der Grund dafür, dass dieser Steinbruch aufgegeben wurde. Weiter in Westen – nämlich bei Carrara, genauer gesagt bei Colonnata – sollen die besten und edelsten Abbaugebiete liegen.  

Weiter geht es auf der nun viel breiteren Straße bergan. Am höchsten Punkt unserer Bergfahrt erwartet uns ein langer, schnurgerader Tunnel, der ebenfalls auffällig breit und zweispurig ist. Als wir durch ihn hindurch sind, erwartet uns im Tageslicht ein gewaltiger Anblick: hinten, am dunstigen Horizont liegt das Mittelmeer. Die dicht bebaute Küstenlinie bis hin nach La Spezia ist deutlich zu erkennen. Rechts oben in Bergen liegen weitere Steinbrüche. Teilweise fehlen ganze Bergkuppen. In riesigen Tagebauten wird der weltweit begehrte und berühmte Marmor hier in der Gegend um Carrara herum abgebaut.  

Je weiter wir nun auf der kurvenreichen Straße wieder bergab in Richtung Ligurisches Meer fahren, um so intensiver wird der süße Duft von Zitronen- und Orangenbäumen und bunten Blumen. Eine Serpentine folgt der nächsten. Allmählich wird mir klar, dass wir auf einer ehemaligen Transportstraße für schwerste Marmorblöcke talwärts fahren, daher auch der breite Ausbau. Bei San Carlo Terme werden die Kurven wieder schmaler – links und rechts neben der Straße wachsen hinter hohen Mauern überall Oliven-, Orangen- und Zitronenbäume. Die Berghänge sind steil – viel Platz bleibt nicht für die Häuser und ihre Gärten. Entsprechend kurvenreich ist die Straße. Unvorstellbar, wie hier die Tieflader mit ihren Marmorblöcken ehemals durchgekommen sind. 

Schließlich sind wir fast in Meereshöhe und haben Massa erreicht. Ab hier folgen wir den Hinweisschildern nach Carrara. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass wir eigentlich keine Zeit mehr für Colonnata und seinen weißen Marmor haben. Unser nächstes Ziel ist demnach La Spezia, die große Hafenstadt am Ligurischen Meer. Bevor wir jedoch aus Carrara herauskommen, ist unsere Geduld gefragt: insgesamt dreimal werden wir und alle anderen Verkehrsteilnehmer von den Carabinieri aufgehalten: in den engen und verwinkelten Straßen der Stadt findet ein großes Fahrradrennen statt, und jedes Mal, wenn man das geschlossene Hauptfeld der Radfahrer an einer Kreuzung erwartet, dann wird der gesamte Verkehr für ein paar Minuten angehalten. Klar, dass wir uns in italienischer Manier jedes Mal an den Autos vorbeimogeln und an die Spitze der Kolonne setzen. Dort warten wir gespannt. Plötzlich rauscht das Radfahrerpulk von links nach rechts vorbei. Einige Zuschauer klatschen, andere jubeln. Radsport ist in Italien sehr populär! Kaum sind alle Räder vorbei gibt die Policia uns und den zahlreichen italienischen Motorrollern das Zeichen, dass wir weiterfahren dürfen. 

Ein, zwei Kreuzungen später kommt dann die erneute Sperrung. Minuten später zischt das Pulk von rechts nach links vorbei. Danach sind wir wieder dran. Und als wir schon dachten, nun sind wir endlich aus Carrara heraus und können richtig Gas geben, da kommt uns ein weiteres Radsportereignis entgegen. Zunächst brettern Moto Guzzis der italienischen Polizei mit Blaulicht und Sirene die Straße entlang. Dann kommen mit Werbung bunt beklebte Autos, ein Lautsprecherwagen und plötzlich sind auch die Radfahrer in atemberaubendem Tempo da. Alles geht unglaublich schnell – und ist eine Minute später bereits vorbei. Zack – so schnell ist der Radsport! Selbstverständlich wissen wir, dass alles mit rechten Dingen zugeht – das Dauertempo wird nur durch hartes Training gehalten. Doping? Was bitte ist das…? 

Die Durchfahrt von La Spezia bringt uns endgültig wieder auf den Boden der Tatsachen: zahlreiche Industrieanlagen, Werften mit alten, verrosteten Schiffen, die dort repariert werden sollen und  dreckige Hafenkais steigern die Attraktivität einer großen Stadt natürlich nicht. Als dann auch noch leichter Regen einsetzt und den Fahrbahnbelag der breiten Hafenpromenade schmierig werden lässt, brechen wir unser Vorhaben ab, heute auch noch den malerischen Hafen von Portovénere am anderen Ufer des buchtartigen Golfo della Spézia anzufahren.  

Stattdessen geht es gleich hinüber zu den Cinque Terre an der italienischen Riviera, nur 15 kurvige Kilometer westlich von La Spezia gelegen. Die Cinque Terre sind weltberühmt, aber es sind letztendlich nur fünf kleine Dörfer zwischen Punta Mesco und Punta di Montenero. Vor den Cinque Terre liegt am höchsten Punkt der Straße wieder einmal ein langer Tunnel. Laut Reiseführer soll gleich hinter dem Tunnel wieder einmal ein besonders schöner Aussichtspunkt liegen: das scheint in Italien häufig so zu sein. Ich fahre entsprechend langsam, um eventuell anhalten zu können.  

Der schöne Aussichtspunkt erweist sich als Radarfalle: noch im Schatten des Tunnels steht das Messgerät. Gleich hinter einer Kurve wartet die Besatzung eines schwarzen Alfa Romeo der Carabinieri, um die Verkehrssünder sofort zur Kasse zu bitten. Aufmerksam beobachtet uns eine uniformierte Polizistin mit Kelle – und lässt uns passieren. Meinen Gruß erwidert die uniformierte Blondine lächelnd. Aso doch ein schöner Ausblick gleich nach dem Tunnel...

Nun haben wir also die Cinque Terre erreicht, und hier herrscht wieder Halligalli! Es ist Wochenende und halb Italien ist unterwegs. Es fällt schwer, einen ruhigen Platz entlang der Straße für einen Ausblick auf die Steilküste zu finden. 

Je weiter wir uns jedoch von La Spezia entfernen, je ruhiger und angenehmer wird die Landschaft. Tief unter uns liegen die Fischerdörfer an der steilen Küste. Wie Schwalbennester kleben manche Häuser an den  felsigen Hängen. Unsere Straße windet sich derweil weit oben und kurvenreich an den Hängen entlang. Wein wird auf Terrassen angebaut. Auch Oliven und Zitrusbäume wachsen hier. Gerne würde ich viel öfter anhalten und die Ausblicke genießen. 

Fast in Meereshöhe verläuft unten in der Tiefe die küstennahe  Eisenbahntrasse. Immer wieder verschwinden die Gleise in einem Tunnel. Eine abenteuerliche Gleisführung. Bald wird unsere breite Straße wieder einspurig. Die Nähe der großen Stadt La Spezia ist nicht mehr zu spüren. Ginster wächst neben der Straße. Die Abendsonne taucht alles in warmes, goldenes Licht. Leider drängt aber die Zeit. Es ist bereits früher Abend und wir haben immer noch keinen Platz für die Nacht gefunden. Der Küstenort Lévanto hat gleich fünf Campingplätze vorzuweisen. 

Die Abendsonne hat sich inzwischen leider verabschiedet, fast unbemerkt sind dichte Regenwolken herangezogen. In Lévanto kommen wir wieder direkt an die Küste und folgen dem Hinweisschild zum Camping. Um die Promenade des Badeortes verkehrsfrei zu gestalten, hat man eine einspurige Hochstraße auf Stelzen parallel zum Strand gebaut. Eine Ampel regelt hier den Verkehr. Bei Rotlicht warten wir an der Rampe zur Hochstraße. Inzwischen fallen die ersten Regentropfen, aber die Luft ist angenehm warm. Hoffentlich kommen wir noch halbwegs trocken auf dem Platz an!

Der Campeggio Aqua Dolce am südlichen Rand von Lévanto ist natürlich am Pfingstsonntag restlos ausgebucht. Damit hatte zwar niemand von uns gerechnet. Aber eigentlich ist das kein Wunder: es ist Wochenende in Italien und aus Deutschland sind ebenfalls zahlreiche Urlauber unterwegs – mehrere Bundesländer haben sogar zweiwöchige Pfingstferien, da lohnt sich für viele Familien die Anreise mit dem Wohnmobil oder Wohnwagen von Bayern oder Baden-Württemberg hierher. Der Aqua Dolce ist von allen derjenige, der am dichtesten am Meer liegt. Vielleicht finden wir etwas weiter im Landesinneren noch einen Platz für vier kleine Zelte und vier Motorräder.

Zu allem Überfluss beginnt der Regen nun richtig. Zum Glück haben wir bei der Rückfahrt über die Hochstraße an der Ampel gleich Grün und müssen nicht einmal warten. Gleich einen Kilometer später werden wir beim nächsten Camping fündig: der „Cinque Terre“ in der Via Sella Mereti nimmt uns auf. Zunächst wettern wir ab – ein schnell besorgtes Bier aus dem Supermarkt sorgt dafür, dass wir auch von innen angefeuchtet werden. Der Regen hört aber bald auf – und durch die Feuchtigkeit in der Luft wird jetzt der süße Duft der mediterranen Vegetation für unsere Nasen noch intensiver. Insofern hatte der kleine Guss sogar sein Gutes…

Die Freundin des Campingplatzbesitzers entpuppt sich als Deutsche. Sie gibt uns einen Geheimtipp: etwas weiter in Richtung Ortsausgang gäbe es eine vortreffliche Pizzeria mit reichhaltiger Auswahl. „Probiert es dort mal. Ihr werdet es nicht bereuen!“

Fast hätten wir übrigens den Weg zur Pizzeria scheinbar erfolglos abgebrochen. Das Restaurant liegt nämlich hinter zwei unübersichtlichen Kurven etwas vor dem Ort. Wir waren schon der Meinung, an der unbeleuchteten und dunklen Ausfallstraße könne kein Lokal mehr kommen. Selbst das Hinweisschild ist unbeleuchtet. Etwas skeptisch betreten wir durch einen Zeltpavillon hindurch das italienische Lokal. Der erste Eindruck ist in der Tat ernüchternd und deutet sehr auf „improvvisazione italiana“ hin - und läst mich sehr an der Qualität des Restaurants zweifeln. Aber um es gleich vorweg zu nehmen: dieser erste Eindruck täuscht gewaltig! 

Der Innenraum ist mit Bildern eines einheimischen Künstlers dekoriert, links steht die Theke mit diversen Gläsern für Rot- und Weißwein. Künstliche Weinreben hängen an der Wand herab. Rechts können wir in die glühende Öffnung des Steinofens schauen, in dem an der Seite ein echtes Holfeuer brennt. Davor steht der Pizzabäcker, der gelegentlich mit viel Schwung einen Teigfladen rotierend in die Höhe schmeißt – der Kerl versteht sein Handwerk. Wenn es so gut schmeckt wie er werfen kann, dann sind wir hier goldrichtig! 

Wir sitzen noch nicht lange, da kommt der Kellner zu uns an den Tisch und bringt die „lista“, und ich muss unumwunden zugeben, dass seither noch niemals eine umfangreichere Speisekarte für verschiedene Pizzas gesehen habe. Man möge es mir glauben oder auch nicht, aber es waren weit über einhundert unterschiedliche Ausführungen des italienischen Hefeteigfladens, die man sich hier aussuchen kann. Unfassbar! Die Auswahl aus der Speisekarte dauert bei uns entsprechend lange. Ich habe mich schließlich für einen Belag aus frischen Steinpilzen, die zuvor mit reichlich Knoblauch in Olivenöl gedünstet wurden, geräuchertem rohem Schinken und frischem Rucola-Salat entschieden. Mama mia! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. 

Zunächst gibt es aber als Vorspeise geröstetes Bruschetta mit Olivenöl, reichlich Knoblauch und frischen Tomaten. Bereits dieser erste Gang ist bombastisch und lässt uns neugierig auf den weiteren Verlauf unseres Abendessens werden. Zwischendurch wird eine kleine Nachbestellung fällig: „Ancora quatro birre grande, per favore!“ Und schließlich kommen riesige Pizzateller auf den Tisch. Unfassbar, was uns dort serviert wird! Wir haben auf dem Tisch fast keinen Platz mehr für unsere Biergläser. Beim Essen redet keiner von uns – wir genießen, was das Zeug hält. Man soll zwar mit Superlativen vorsichtig sein, aber diese Pizza hier ist in der Tat die leckerste Pizza, die ich jemals gegessen habe. Ich schwöre es!

Klar, dass ein solches Festessen gebührend beendet werden muss: zunächst ein tiefschwarzer Espresso in der typischen, winzigkleinen Tasse. Danach folgt ein herrlich milder Grappa aus der Region, vor unseren Augen abgefüllt aus einem von insgesamt drei großen Fässern gleich hinter der Theke. Das sorgt für eine gute Verdauung – und für einen beschwingten Rückweg zum Campingplatz. Über uns leuchten inzwischen wieder die Sterne. Zikaden zirpen in den Gärten hinter den Zäunen. Immer noch liegt ein schwerer, süßer Duft von Zitronen- und Orangenbäumen in der Luft. 

Trotz dieser Bilderbuchstimmung wird mir wehmütig klar, dass dies auf unserer Fahrt bereits die letzte Nacht unter freiem Himmel sein wird. Morgen Nachmittag müssen wir schon in Alessándria auf den Autozug fahren. Aber noch sind wir hier an der Riviera di Levante. Und so genießen wir ein letztes Feierabendbier vor dem Zelt. Wie gut es uns doch geht!

Die letzte Tagesetappe beginnt am nächsten Morgen bei herrlichem Sonnenschein. Rasch lassen wir Lévanto hinter uns und brummen auf kurviger Straße wieder hinauf auf die Küstenberge der Levante. Weit unten liegt das dunkelblaue Mittelmeer. Bald kommen wir einen dichten Pinienwald hinein. Der harzige Duft der Nadelbäume umgibt uns. Ich genieße die Schräglagen in den engen Kurven. Schlag auf Schlag kippt die BMW mal nach links und sofort wieder nach rechts. Es ist fast wie das Wedeln beim Skifahren… 

Dann erreichen wir Dévia Marina, und nun wird es abenteuerlich: einzigartig ist die Küstenstraße nämlich zwischen Dèiva Marina und Sestri. Hier gibt es direkt unterhalb der Steilküste zwei lange Straßentunnel, der jeweils nur alle 10 Minuten für den Verkehr in eine Richtung freigegeben werden. Noch zeigt die Ampel rot – wir beobachten gespannt unsere Uhren, denn neben dem Tunneleingang hängt ein Hinweisschild „semaforo verde ai minuti 00 – 10 – 20 – 30 – 40 – 50“, das Ampelgrün ist also nur bei der jeweiligen Zeit zu erwarten. Ein bisschen Zeit haben wir noch. Also stellen wir die Motorräder ab, und riskieren einen Blick über die Mauer zum Meer. Da kommt der Gegenverkehr aus dem Tunnel. 15, 20 Autos sind es diesmal. Hinterher ist wieder Ruhe. Langsam wird es Zeit für uns, die Motorräder wieder zu besteigen. Hinter uns stehen inzwischen auch mehrere Autos und warten wie wir. Ein Blick auf die Uhr im Tacho verrät, dass wir gleich weiterfahren können. 

Dann wird die Ampel grün. Unser "Konvoi" fährt los. Hinein geht es in eine dunkle, unbeleuchtete Röhre - ab und zu kann man durch ein Fenster im Felsen einen schnellen Blick auf das blaue Meer erhaschen oder in einer kleinen Bucht zwischen zwei Tunnelportalen vielleicht 50 Meter in der Sonne fahren.  

Nur in dem Badeort Moneglia, der im Hinterland komplett von steilen Felswänden umgeben ist, wird die Tunnelstrecke kurz unterbrochen. Im Sonnenschein fahren wir an der Promenade entlang. Aber bereits am Ortsende müssen wir wieder auf die Freigabe des nächsten Tunnelabschnitts durch eine weitere Ampel warten. Insgesamt reiht sich so auf einer Länge von etwa 8km zwischen Dèiva Marina und Sestri ein Tunnel an den nächsten. Muss eigentlich  erwähnt werden, dass alle diese Bauwerke ehemals meisterlicher italienischer Ingenieurkunst heutzutage in einem modernen ADAC-Tunneltest vermutlich nicht ein einziges Testkriterium erfüllen würden…? 

Hinter Sestri wird der Küstenbereich für Dörfer und Städte wieder etwas breiter. Bald haben wir Rapallo und Santa Margherita erreicht. Sozusagen als krönenden Abschluss unserer Küstenfahrt wollen wir unbedingt noch Portofino anfahren. Obwohl wir auf den letzten Kilometern erstaunlich vielen Sportwagen wie Porsche, Mercedes oder auch Austin Martin begegnen – fast alle davon sind übrigens Cabrios und kommen aus Großbritannien – kommen wir nur äußerst langsam voran. Die Erklärung ist einfach: unbestreitbar hat die Riviera di Levante eine besondere Anziehung auf betuchte Senioren, die sich wohl nicht nur ein „passendes“ Auto für das überaus angenehme Klima dieser Region leisten können, sondern auch ein entsprechendes Anwesen: regelmäßig muss nämlich ein Cabrio vor uns auf ein mit einem hohen Eisentor versperrtes Grundstück abbiegen und behindert dadurch regelmäßig den Verkehr auf der kurvenreichen Küstenstraße.  

Schließlich reicht es uns: auch wenn Portofino sicherlich ein entzückendes kleines Hafenstädtchen ist, der Zeitverlust unserer Anreise durch die übermäßig langsam chauffierten Sechszylinder lässt eine eingehende Besichtigung nicht mehr zu. Wir müssen möglichst nicht mehr langsam aber dafür sicher an unser pünktliches Erscheinen am Autozugterminal denken. Also zurück nach Santa Margherita und dann ab in Richtung Genova. 

Bereits in Recco biege ich von der Küstenstraße auf die Autostrada A12 ab. Nun endlich kommen wir wirklich zügig voran. Aber die Autobahn ist stark befahren. Kaum kommt man aus einem der vielen Tunnel heraus geht es auch schon auf einer Brücke über ein tiefes Tal. Hinter der hohen Brücke wartet bereits der nächste beleuchtete Tunnel. Zeit und Muße für Ausblicke auf die Küste oder die Stadt bleiben da nicht. Genua ist eine Großstadt mit entsprechend starkem Verkehr.  

Die Autobahn führt auf zahlreichen Brücken quer durch Genua hindurch. Teilweise kann ich direkt in die Wohnzimmer einiger Familien sehen – viele Hochhäuser stehen direkt neben der Autobahn. Kann man eigentlich noch furchtbarer wohnen?  

Hinter Genua windet sich die Autostrada kurvenreich bergauf und bergab über den Apennino Ligure. Bis Vignole Arquata bleiben wir auf der „Bahn“. Dort zahlen wir unsere Autobahngebühr und fahren ab hier auf einer Staatsstraße weiter. Die Berge haben schon fast aufgehört. Vor uns liegt immer flacheres Land. Wir liegen nach wie vor gut in der Zeit. In Novi Ligure stoppen wir an einem großen Supermarkt und kaufen für den Abend im Zug frisch ein. Ein wenig Parmaschinken, Tomaten, etwas Brot und ein paar Dosen Bier. Dann entdecke ich noch eine Flasche Grappa, die als Mitbringsel für Daheim aber extra eingepackt wird. 

Nun kommt der letzte Reiseabschnitt in Italien. Alessándria ist entlang der Straße bereits ausgeschildert. Wir kommen gut voran. Plötzlich überholt uns Thomas und gibt ein nervöses Handzeichen. Er meint, Klaus und ich wären gerade geblitzt worden, und zwar von hinten! „Habt ihr denn das Tempo 50 Zeichen nicht bemerkt?“ Klaus und ich fuhren in der Tat vorne. Wir schauen uns an. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Die Sache klärt sich rasch: da war zwar ein Tempo 50 Schild, aber darunter war zu lesen „in caso di nebbia“ – also „bei Nebel“! Thomas, keine Panik – auch auf den allerletzten Kilometern werden wir der italienischen Straßenverkehrsbehörde keine Spenden zukommen lassen.  

Pünktlich zur angegebenen Verladezeit kommen wir auf dem Terminal des Autozuges in Alessándria an. Ein paar andere Bikes stehen auch schon in der Wartespur aufgereiht. Neben uns parken mal wieder – Cabrios aus England! Diesmal sind es die Teilnehmer einer Oldtimer-Ralley, die mit der Bahn die gemeinsame Heimfahrt ins Vereinigte Königreich antreten wollen. „Man war“ drüben auf Korsika und hatte „einige herrliche Tage“ dort. Und das alte, dunkelgrüne Austin Cabrio, „my dear“, lief mal wieder „extraordinary!“ Die Herrschaften haben übrigens sämtlich „1st class“ gebucht. What else? 

Wir müssen noch etwas warten, bis auch wir auf den Zug fahren sollen. Wieder muss ich mich dann tüchtig auf meinen Tankrucksack drücken, damit ich mit dem Helm nicht an den Deckenträgern des Waggons anstoße. Dann aber steht die BMW dicht hinter Thomas  V-Strom zum Anzurren bereit. Nachdem wir uns überzeugt haben, dass unseren Lieblingen auf der Zugfahrt nichts Ernstes zustoßen kann, verlassen wir den Fahrzeug-Waggon. Nun wird es bald losgehen.

Später am Abend haben wir den Lago Maggiore erreicht. Da wir leider in unterschiedlichen Abteilen unsere Betten zugewiesen bekommen haben, treffen wir uns einfach zum gemeinsamen Essen auf dem Gang. Draußen wird es langsam dunkel. Der Zug fährt derweil in Ufernähe am See entlang. In einer langgezogenen Kurve können wir die angehängten Waggons mit unseren Motorrädern erblicken. Wir sitzen inzwischen gemütlich angelehnt auf dem Boden und essen aus den Plastiktüten unser Mitgebrachtes. Die Stimmung ist hervorragend, und während wir uns mit ein paar Bierdosen zuprosten, rollt unser Autozug dem Simplonbasistunnel entgegen. Irgendwann ziehe ich mich müde zum Schlafen zurück. Das Ende einer tollen Tour kündigt sich an. Dann liege ich in meiner Koje und genieße die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges. Ursprünglich hatte ich gesagt: „Toskana, oder was?!“ Aber das ist es nicht geworden. Keine Werkstour bei Ducati, kein Florenz, kein Siena. Ärgerlich? Nein! Dafür bekam ich ein aufregendes technisches Abenteuer mit einem alten Wasserbüffel, ein neues Zelt aus Meran, Italiens „Po“, kurvige Apenninen-Pässe, weißen Marmorstein und die Levante, die beste Riesenpizza aller Zeiten, leckeren Grappa und all die vielen kleinen Begegnungen mit wirklich netten Italienern.  

Ich drehe mich auf die Seite, strecke mich ein wenig und schlafe zufrieden ein.

 

 

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